Es geht los: Die 60. Berlinale wird am Abend mit dem chinesischen Film “Apart together“ eröffnet. Das Filmfestival ist eine spezielle Veranstaltung mit einem speziellen Gefühl - inklusive einer gewissen Überforderung. Die gehört dazu: Holger Kreitling erklärt, was die Berlinale den Besuchern antut und warum das gut ist.
Die Berlinale fordert heraus, das ist nicht immer einfach. Die Berlinale, richtig erlebt, beißt sich in deinen Hals wie ein Vampir, o ja. Sie kostet Blut und Schlaf und Kraft. Die Berlinale ist schwer statt leicht, sie ist Winter statt Frühling. Der Festivaldirektor trägt nicht aus Modegründen Hut und Schal. Ihn fröstelt.
Aber wir Berlinale-Freunde und Dieter Kosslick sowieso stecken das lächelnd weg. Wir sind leidenschaftliche Fans. Getriebene. Zur Feier der 60. Berlinale wollen wir deshalb einmal ein echtes Geständnis loswerden: Die meisten Berlinale-Filme kann man vergessen. Wirklich wahr. Einmal in diesen hektischen Tagen gesehen und bald aus dem Gedächtnis verschwunden. Flüchtige Eindrücke. Bald darauf fragt der Berlinale-Besucher sich: War das was? Hm, lautet meist die Antwort. Schon. Aber was eigentlich?
Dieses Vergessen und Rätselraten hat natürlich wenig mit der Qualität der Filme zu tun, auch wenn gespottet wird, in Berlin könne man den Goldenen Bären besonders mit gut gemeinten Werken holen, die keinerlei Wirkung zeigen. Nein, wir wollen das Festival loben. Es laufen nun mal in jedem Jahr hunderte Filme, das unterscheidet die Berlinale mit den verschiedenen Sektionen und Reihen von Cannes oder Venedig. Der regelmäßige Berlinale-Besucher sichtet möglichst viele davon, gierig, voller Heißhunger und Freude. Er weiß, die Chance ist einmalig. Filme kommen schnell und gehen schnell. Es wird dunkel im Kino, es wird hell. Irgendwann erscheint es einem nur noch dunkel zu sein, und die Bilder gehen ineinander über. So formt sich ein einziger, langer Berlinale-Film. Stars, gegensätzliche Landschaften, fremde Sprachen, alles vermischt sich. Der persönliche Berlinale-Film ist wie eine unsortierte Festplatte im Kopf. Ein Ich-Remix.
Dann, mit dem Abstand von Monaten und Jahren, passiert etwas Merkwürdiges. Die Filme selbst treten zurück, die Erinnerung ist trügerisch, löst sich auf. Nur einzelne Szenen sind noch im Kopf präsent, manchmal ohne den dazugehörigen Film.
Oft bleibt von einem Festival-Film einfach nur ein Satz zurück: "Den habe ich auf der Berlinale gesehen". Was und wie darin erzählt wurde? Hm. So wie man weiß, wo und wann man ein Lied oder eine Platte zuerst gehört hat, ohne gleich die Melodie summen zu können. Dieses Erlebnis ist gut und richtig. Die Berlinale-Festplatte vermengt das Leben und die Filme. Erlebtes und Gesehenes greifen ineinander. Im Gedächtnis wird auf diese Weise aus der Berlinale ein glückhaftes Rauschen. Die Festival-Situation und der Film setzen sich fort. Das war übrigens von Anfang an das Ziel des Kinos. Realitätsdarstellung und Eskapismus, diese beiden gegensätzlichen Ideen, haben die bewegten Bilder geprägt.
Die Berlinale hat von 1951 an versucht, diesen Widerspruch aufzulösen, sie hat zunächst Stars des Westens präsentiert und sich dann als politisch wichtiges Festival positioniert. Nicht wenig Kritik, die es über Jahrzehnte an dem Festival gab, hat damit zu tun, dass die einen meinen, es komme auf gewichtige Inhalte an, und die anderen meinen, Stars und vermeintlich "großes" Kino sei wichtig. Jetzt wird das 60. Jubiläum gefeiert. Noch einmal ist die Berlinale größer als zuvor. Dieter Kosslick bemüht sich klug um einmalige Ereignisse.
Doch zurück zum Vergessen. In sehr guter Erinnerung bleiben die Filme, die dem Betrachter als schlimm erscheinen. Gerade diese würde man gerne aus dem Gedächtnis streichen. Aber nein. Sie nisten sich ein. Sie dauern. Im Kopf spielt einem die Berlinale-Festplatte Streiche! Die Hemmschwelle, vorzeitig das Kino zu verlassen, ist bei der Berlinale niedriger als im normalen Kino. Oder im Theater. Berlinale-Veteranen rufen sich in jedem Jahr wieder die Namen ihrer Lieblings-Fluchten zu. Meine Desaster-Erlebnisse sind mir alle in Erinnerung geblieben. Gerne geflohen bin ich 1990 bei meiner ersten Berlinale aus "Die Rache einer Frau" mit Isabelle Huppert, die ich sonst verehre. Es wurde unaufhörlich gequatscht, ohne dass irgendetwas passierte. Ähnliches galt für "Die Nacht singt ihre Lieder" 2004. Und für Christian Petzolds "Gespenster" 2005. Ich war bei meinen Rückzügen nie alleine.
Einmal bin ich aus einem Film gegangen, der später den Goldenen Bären gewonnen hat. Ich verrate den Titel lieber nicht, er spielte in der Mongolei. Ich weiß bei all diesen Filmen noch die Gründe für meinen Frevel, auch dies gehört zu einer ordentlichen Berlinale dazu: das schlechte Gefühl, respektlos zu sein. Und warum diese Handlung, die Suche nach dem Ausgang? Weil der nächste Film immer schon wartet, und irgendwo gleich das Licht im Saal ausgeht. Weil Berlinale-Zeit kostbar ist.
Am Anfang steht immer ein Wunsch: Die Berlinale ist eine zehntägige Suche. Der Besucher weiß vorher nicht, was ihn erwartet. Gerade darin liegt der Reiz. Es ist oft darüber gerätselt worden, warum die Berliner sich mit einer derartigen Begeisterung obskure Filme ansehen, für die sie das Jahr über nie vom Sofa aufstehen. Mal ehrlich, das Filmland Tadschikistan ist uns eigentlich nicht nahe. Die Antwort: Das Berlinale-Rauschen gibt es nun mal nur im Ausnahmezustand. Und bewusst oder unbewusst hat es jeder Besucher schon mal erlebt. Es ist ein schönes Gefühl. Es packt uns.
Dabei macht es die Berlinale den Besuchern leicht, ins Chaos einzutauchen. Alles gehört dazu: Die Aufregung vorab, der Run auf die Karten, das stolze Defilee der Stars, das schlechte Wetter. Die Ausbreitung über die Stadt mit immer mehr Kinos und Spielstätten hat ihren tieferen Sinn, die Metropole wird im Stile einer unaufhörlich wachsenden Pflanze bekehrt. Hoch willkommenes Film-Doping.
Nicht wir strecken uns zur Berlinale hin, es ist das Festival, das sich zu uns hinstreckt.