Ultraschall

Wenn das Orchester zum Chemielabor wird

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Alexander Gumz
Das Eröffnungskonzert bestreitet das Deutsche Symphonie-Orchester (DSO) unter der Leitung von Sylvain Cambreling.

Das Eröffnungskonzert bestreitet das Deutsche Symphonie-Orchester (DSO) unter der Leitung von Sylvain Cambreling.

Foto: Deutschlandfunk / Simon Detel

Sirenen und Glückseligkeit: Das Berliner Ultraschall-Festival startet seine 20. Ausgabe mit einem spannenden DSO-Konzert

Ein lässig buntes Publikum füllt den großen Sendesaal im Haus der Rundfunks fast gänzlich: von Abendkleid und Anzug über Jeans bis Jogginghose ist alles dabei. Das Ultraschall-Festival zieht ein breit gefächertes, auch junges Publikum an. Es könnte, schaut man in die Runde, schlimmer stehen um das 20-jährige Festival für Neue Musik. Wer sich einfach zu Bach, Mozart oder Brahms zurücklehnen will und sein Leben genießen, fühlt sich hier womöglich hin und wieder gestört von Pfeifen, Brummen oder Klirren. Wer aber aufregende Musik der letzten 50 Jahre entdecken möchte, ist bei Ultraschall richtig.

„Die Neue Musik ist so faszinierend, so verschieden und so spannend“, sagte Kurator Andreas Göbel im Interview. „Man muss nicht unbedingt vorher viel darüber wissen. Das Einzige, was man braucht, ist Neugier, sich einlassen wollen auf etwas Neues.“ Um keine reine Fachmesse zu sein, für „die Freaks“, wie Göbel selbst sagt, „die den ganzen Tag nichts anderes hören und machen als Neue Musik“, gibt es neben Uraufführungen auch aktuelle Trends und Wiederentdeckungen bei Ultraschall zu machen, in diesem Jahr etwa frische Blicke auf Klassiker wie Morton Feldman oder Iannis Xenakis.

Das Eröffnungskonzert bestreitet – auch das schon eine Tradition – das Deutsche Symphonie-Orchester (DSO), diesmal unter der Leitung von Sylvain Cambreling, einem der renommiertesten internationalen Dirigenten für Neue Musik. „Recherche sur le fond“ von Charlotte Seither klingt zu Beginn ein wenig wie Ambient-Musik für großes Orchester. Die Geigen flirren, Glissandi rutschen durch die Bläser. Monochrome Klangflächen, hin und wieder unterlaufen von drohend pulsierenden Pauken. Dann setzt lautmalerische Perkussion ein: Geräte, die wie Käuzchen rufen. Und weit hinten im Orchester thront eine rote Sirene aus Stahl. Die wird so langsam gedreht, dass sie Töne von sich gibt wie eine schlafende Maschine – nicht das alarmierende Jaulen, das Edgar Varèse in den 1920er-Jahren in seinem bahnbrechenden „Amériques“ eingesetzt hat.

Zwischendurch gibt es erläuternde Gespräche

Das ist vielleicht alles erläuterungsbedürftig, dachten sich die Ultraschall-Macher. Außerdem wird das Ganze ja im Radio übertragen. So gibt es zwischen der Musik Gespräche mit den Ausführenden. Zum Glück liefern die keine Gebrauchsanweisungen für ihre Stücke. Die promovierte Musikwissenschaftlerin spricht sehr eloquent über ihre Verfahren – darüber, dass das Orchester eigentlich ein Chemielabor sei, in dem man Teile eines Tons mit andern Teilen mischen könne. Dass sie Töne interessieren, die nicht so klar daliegen wie auf einem Klavier, die vielmehr individuell behandelt werden: zerschnitten, zerdehnt, geknautscht. Das Knautschen hat es ihr angetan, mehrfach spricht sie davon. Da bricht sich ein Denken über Musik körperlich Bahn, als etwas, das ausfranst, in jeder Aufführung neu und anders entsteht. Auf die Frage aber, ob man verbalisieren könne, wonach ihr Stück denn sucht, antwortet sie schlicht: „Nein“. Erleichtertes Kichern im Saal.

Philippe Boesmans’ „Capriccio“ für zwei Klaviere und Orchester kommt im Vergleich fast wie Wohlklang daher. Er habe es in Erinnerung an seine Kinder geschrieben, sagt der Belgier. In der Kleinstadt Tongern gab es in den 40er-Jahren keinen Konzertsaal, kein Orchester. So hing Boesmans stundenlang vor dem Radio, lauschte spätromantischen Konzerten. Das hört man „Capriccio“ an. Es ist informierte Musik, in der die Musikgeschichte immer als Hallraum mitspielt. Manchmal scheint es, als würde eine Schwarz-Weiß-Schmonzette durch einen leiernden Filmprojektor gedreht. Erinnerungsfetzen an alte Tanzmusik scheint auf.

Momente von meditativer Glückseligkeit

Eine Art Kadenz, die vom Grau-Schumacher-Duo gespielt wird, als sei es zu einer Person verwachsen, klingt fast nach Ravel oder Debussy. Doch auch Boesmans verfremdet immer wieder seine Symphonik. Zwar gibt es bei ihm strahlende C-Dur-Akkorde, erläutert Sylvain Cambreling, doch haben sie keine harmonische Funktion. Auf die Frage, wie tonal zeitgenössische Musik denn bitte sein dürfe, antwortet Boesmans verschmitzt: „Tja – was ist tonal?“ Das Publikum bricht in Gelächter aus.

Einen Mittelweg zwischen diesen Ansätzen beschreitet die in Graz lebende Polin Joanna Wozny. Ihr „Archipel“ kommt nie krachiger als mezzoforte daher. Im Lauf des Werks werden die Pausen immer länger, immer stärker Teil der Komposition. „Archipel“ wurde in der Herz-Jesu-Kirche in München uraufgeführt, einem riesigen lichtdurchfluteten Glasquader. Das merkt man ihm an.

Wenn es Momente von meditativer Glückseligkeit gibt an diesem Abend, dann hier. Man schließt die Augen, während kleinschrittige Akkorde vorüberziehen. Irgendwo darüber schweben Triller. Ein kurzes Aufblühen der Bläser erinnert an Ligeti. Eine tiefe Trommel pocht durch den Saal wie
die Erinnerung an einen Beat. Und schon ist es wieder so leise, dass man im Auditorium eine Handtasche umfallen hört. Oder war das ein Teil des Stücks? Wie schön, das nicht ergründen zu müssen. Die Offenheit dieses bei aller Zurückhaltung sehr sinnlichen Werks hält das aus. Und macht Lust auf mehr.

„Ultraschall Berlin – Festival für Neue Musik“, noch bis 20.1. im großen Sendesaal des RBB, im Radialsystem V, Heimathafen Neukölln und in der Volksbühne.