Seit gut einem Jahr ist die Neue Nationalgalerie geschlossen und von außen sieht es aus, als sei nichts passiert. Tut sich da bald etwas? So eine Frage kann Martin Reichert überhaupt nicht provozieren, der Umzug eines Museums gestaltet sich ähnlich wie ein privater. Sichten, sortieren, verpacken, wie Wintermäntel eben, nur dass es sich in diesem Fall um wertvolle, oft fragile Gemälde und Skulpturen handelt. Und schließlich müssen die angemieteten Depots noch hergerichtet und eingeräumt werden, Leinwände stellt man nicht einfach in die Ecke. In den nächsten Monaten soll es losgehen mit der Demontage der Granitplatten, die gesamte Fassade soll zerlegt werden. Ein bisschen Archäologie, an die 10.000 Teile müssen identifiziert und verpackt werden. Zurück ins Jahr 1966, das stand der Rohbau der Nationalgalerie.
Martin Reichert, Partner im Büro Chipperfield, verantwortlich für die Generalsanierung des Mies van der Rohe-Baus, kann einiges erzählen, vier Jahre ist er mit dem Projekt beschäftigt. Interessant war natürlich die Sichtung der historischen Ausstattung, klar, die Barcelona Stühle gehören dazu, ganz hinten in einem Schrank fand er die alten Steinaschenbecher, die Mies für seinen Besprechungsraum entworfen hatte. Unter Mies-Fans dürften sie eine hohe Wertigkeit haben, der Baumeister rauchte gerne Zigarre.
Einige verwackelte Filmschnipsel fanden sich im Landesarchiv
Reichert hat im Vorfeld der Sanierung mit seinem Team zwei Jahre in Amerika recherchiert und Baupläne und Dokumente aus dem privaten und dem Nachlass des Büro Mies van der Rohes gescannt und fotografiert. Die Unterlagen befinden sich in den Archiven des Museum of Modern Art (MoMA) und der Library of Congress in Washington. In den USA befindet sich der gesamte Schriftverkehr des Senats an das Büro des Baumeisters. „Lückenlos“, versichert Reichert. Umso mehr hat ihn verwundert, dass es in Berlin nur „Streugut“ gibt, wo er doch an die „Gewissenhaftigkeit der deutschen Behörden geglaubt“ habe, zumal es sich bei dem Gebäude um ein ikonisches Werk von Weltrang handelt. Einige verwackelte Filmschnipsel fanden sich im Landesarchiv, jeweils drei, vier Minuten lang. Etwa vom Richtfest, wo die Krone – Mies hat sie selbst entworfen – an einem Galgen hängt – rechteckig und aus Stahl. Angesichts dieser Fundstücken gibt es nun Pläne für eine Reihe von Publikationen zum Haus, es existiert, so Reichert, bisher noch keine substanzielle Dokumentation weder zur Planungs- noch zur Baugeschichte der Nationalgalerie.
Im Planungsbüro von David Chipperfield – mindestens drei Tage im Monat ist der Brite in Berlin – beschäftigen sich allein zehn Architekten mit der Nationalgalerie. Reichert kam 2000 ins Büro, das Neue Museum gehörte zu seinen großen Projekten. Seit 2011 ist er nun Partner.
„Der Bau hat dennoch erstaunlich gut funktioniert“
Wie rüstet man ein unter Denkmalschutz stehendes Gebäude für Ansprüche des 21. Jahrhunderts? Seit die Nationalgalerie 1968 eröffnete, hat sich alles verändert, die Kunst, das Publikum und überhaupt die Institution Museum. Die große Glashalle war von Anfang an schwer zu bespielen. Zu viel Licht, keine Wände und das Ausstellungsklima war nicht ideal, nicht zuletzt deshalb, weil man durch die Drehtür kam und direkt im Raum stand.
„Der Bau hat dennoch erstaunlich gut funktioniert“, findet Reichert. „Es gibt weltweit keinen Kunstraum dieser Bedeutung, der wie eine große Glasvitrine so unmittelbar im öffentlichen Raum steht.“ Diese Qualität werde mittlerweile international anerkannt, neben der Turbinhalle der Tate Modern und der Spindelhalle des Guggenheim New York sei die Halle der Nationalgalerie einer der renommiertesten Räume für Gegenwartskunst.
Die Verbesserung des Raumklimas ist eine der großen Aufgaben, weil die Bedingungen für internationale Leihgaben immer schärfer werden, besonders Privatsammler und Museen aus den USA hätten sehr hohe Anforderungen. „Wenn die Nationalgalerie überlebensfähig bleiben will, braucht sie die großen Sonderausstellungen und muss damit die Bedingungen des Leihverkehrs erfüllen können“, meint Reichert.
Das Untergeschoss soll vom Neubau, dem Museum der Moderne, profitieren
Auch in den Bereichen Kasse, Garderobe, Shop bessert das Chipperfield-Team nach. Die zwei originalen Holzgarderoben in der großen Halle waren von Mies für 300 Personen konzipiert. Kunst war in den 60er-Jahren elitär. Die Besucherserviceeinrichtungen werden mehr als verdoppelt, um Platz zu schaffen, sollen die zwei historischen Depots im Untergeschoss umgenutzt werden. Die neuen entstehen im nicht unterbauten Teil der Terrasse.
Das Untergeschoss soll vom Neubau, dem Museum der Moderne, profitieren. Dort ist eine unterirdische Verbindung zwischen den Häusern geplant und somit zusätzliche Ausstellungsräume. Die Crux ist, der Übergang kann nicht geschaffen werden, solange keine neue Trasse die alte 50 Hertz-Mega-Stromautobahn unter der Erde ersetzt, nach derzeitiger Planung erst 2028. Der Architekt kann vorerst also nur die künftige Anbindung in der Nationalgalerie schaffen. Ob der Eröffnungstermin 2021 zu halten ist, ist fraglich.
Die Auslobung des Ideenwettbewerbs für das neue Haus am Kulturforum hat Reichert studiert, dort sind die Grundlagen für den anschließenden Realisierungswettbewerb formuliert. Noch vor der Berlinale soll das Ergebnis im Februar in einer Ausstellung vorgestellt werden. Teilgenommen hat das Büro nicht. Von behutsamer Einfügung sei die Rede, von der Respektierung der Sichtachsen zwischen Nationalgalerie und Philharmonie, andererseits soll der Neubau selbstbewusst sein und emblematisch. Der Zielkonflikt läge auf der Hand, „das widerspricht sich“, sagt Reichert. Ob er beim Realisierungswettbewerb mitmacht, wenn das Büro eingeladen würde? „Wir werden sehen. Wir sind gewohnt, dass es schwierig ist. Das ist weltweit einer der wichtigsten Wettbewerbe des Jahrzehnts.“ Klingt bald so, als hätte er schon einen Entwurf im Kopf.
Berlinerisch sei es, sich viel vorzunehmen
Es gibt an kaum einem anderen Ort in Berlin so viele gescheiterte Masterpläne wie am Kulturforum. Berlinerisch sei es, sich viel vorzunehmen und sich bald an die Zielsetzungen nicht mehr gebunden zu fühlen, so Reichert. In anderen Ländern gäbe es da mehr „Bindewirkung“. In Berlin würde man gerne alle fünf Jahre über alles neu denken und neu diskutieren – und oft zu anderen Ergebnissen kommen.
Ist das Berliner Mentalität? „Das ist eine Art von Stadtkultur. Fast jeder fühlt sich berufen zu fast jeden Thema etwas zu sagen.“ Klingt smart, wie er das sagt. Martin Reichert kann es begründen. Es gibt Länder, wo sich nahezu keine öffentliche Meinung zum Städtebau formuliert. Gerade David Chipperfield schätze diesen Kontrast zu London, wo Städtebau vom Geld gesteuert wird. „Wer Geld hat“, meint Reichert, „bestimmt, was gemacht wird.“