Bei den Berliner Philharmonikern fand in den vergangenen Monaten ein Schaulaufen der Dirigenten statt. Kandidaten wurden gewogen und befunden. Es gilt einen vorzeigbaren Nachfolger für Simon Rattle, 59, zu finden, der 2018 aufhört. Die Philharmoniker wählen ihren Chefdirigenten selbst, sie vergeben die wohl attraktivste Position in der Klassikwelt. Aber die Zeit des Diskutierens geht dem Ende entgegen, bereits im Mai soll der neue Mann am Pult verkündet werden. Aus den Reihen der Philharmoniker ist derzeit zu hören, dass noch viel Ratlosigkeit herrscht.
Der Fall Kirill Petrenko
In der Zwischenzeit sind auch Merkwürdigkeiten passiert. Dazu gehört der Fall Kirill Petrenko. Der gebürtige Russe sollte Anfang Dezember die Philharmoniker dirigieren. Petrenko ist derzeit Chef in München, Jahrgang 1972, gilt als künstlerisches Schwergewicht seiner Generation, als Besessener und zugleich als Sensibelchen. Ein aussichtsreicher Kandidat also. Er stand unter großem Erwartungsdruck. Petrenko war rechtzeitig angereist, verbrachte eine Nacht im Hotel und checkte am nächsten Morgen aus. Daraufhin hat das Hotel in der Philharmonie angerufen, um nachzufragen, ob alles in Ordnung sei. Die Philharmoniker riefen daraufhin die Agentur von Petrenko an, die dann in einem Rückruf bestätigte, dass der Dirigent erkrankt sei. Das Ganze ist ein unglücklicher Dienstweg.
Die Pressestelle gab schließlich die Mitteilung raus, wonach Daniel Harding kurzfristig für den erkrankten Petrenko einspringt. Seine Absage wurde allgemein bedauert. Und damit schien der Fall offiziell vom Tisch zu sein. Das Ganze mag eine absurde Geschichte sein, aber sie wurde unter Philharmonikern ziemlich ernsthaft diskutiert. Man hätte sogar versucht, heißt es, wenn die Absage korrekt verlaufen wäre, ihm kurzfristig Ersatztermine anzubieten.
Kirill Petrenko ist raus
Aber jetzt ist Petrenko raus aus dem Rennen. Was schade ist, aber auch verständlich. Zu den Anforderungen an Rattles Nachfolger gehört es, die Nerven zu bewahren. Man stelle sich vor, die Philharmoniker sind auf einer Tournee in New York oder Tokio. Plötzlich ruft der Chauffeur an und teilt mit, dass der Chefdirigent schon mal nach Berlin zurück geflogen sei. Solche Verwicklungen kann sich das Spitzenorchester nicht leisten. Die jüngeren Dirigenten sind auch nicht unkomplizierter und verlässlicher als die alten, lautet die Erkenntnis aus der Episode.
Die Philharmoniker steuern in diesen Wochen auf eine ähnliche Entscheidungsfalle zu wie bei der Wahl von Simon Rattle im Juni 1999. Damals konstatierte der altgediente Karajan-Geiger Axel Gerhardt: „Die jungen Leute haben gesiegt. Es ist eine Niederlage für die Traditionalisten.“ Der wuschelköpfige, fotogene Rattle bediente damals mit seinem erfrischenden Zugriff auf das Repertoire den Zeitgeist. Außerdem pflegt der Brite bis heute – wie es auch schon sein Vorgänger Claudio Abbado tat – den umgänglichen Stil mit den Musikern.
Rattle setzte sich gegen Barenboim durch
Seine Wahl war auch eine Absage an den Typ Maestro, der den Musikern ansagt, was gespielt wird. An jenem Wahltag setzte sich Rattle in geheimer Wahl gegen Daniel Barenboim durch. Rattle erhielt 43 Prozent der Stimmen, Barenboim 25 Prozent. Damit ließ sich dann eine Mehrheit herstellen.
Daniel Barenboim, 72, gilt wieder als einer der Favoriten. Er hat eine treue Fraktion unter den Musikern. Bei den Philharmonikern ist er seit fünf Jahrzehnten als Pianist und Dirigent zu Gast. Er hat eine Reihe von Höhepunkten dirigiert, er war immer zur Stelle, wenn er gefragt wurde. Und er war nie beleidigt, wenn er nicht gewählt wurde. Andere zogen sich schmollend zurück. Barenboim ist ein Weltstar, künstlerisch auf dem Höhepunkt und voller Pragmatismus, wenn es darum geht, Dinge voranzutreiben. Falls er 2018 das Pult in Berlin wechseln würde, ließe er eine luxuriös sanierte Staatsoper und eine virtuose Staatskapelle hinter sich zurück.
Näher am Karajan-Modell
Bei den Diskussionen unter Philharmonikern geht es auch darum, wie weit man sich auf einen Pultherrscher alter Schule einlassen könnte. Was dem alten Karajan-Modell näher wäre. „Wir lassen uns aber von Dirigenten nicht anbrüllen“, sagte ein Philharmoniker im Gespräch. Auch wenn das in anderen Orchestern üblich ist. Die Philharmoniker würden aufstehen und die Probe verlassen. Auf der anderen Seite bräuchte man jemanden, der dem künstlerischen Druck der Philharmoniker standhält. Die Musiker wünschen sich wieder einen charakterstärkeren Chef.
Mehrere Namen kursieren
Auch Christian Thielemann, 55, der in den nächsten zwei Wochen sechs Konzerte in der Philharmonie leitet, weiß eine starke Fraktion hinter sich. Der Berliner mit Bayreuth-Lorbeeren hat 1996 bei den Philharmonikern debütiert. Es ist sein 16. und 17. Programm beim Orchester. Thielemann kann das für die Philharmoniker wichtige deutsche Repertoire aus dem Effeff, seine Vielseitigkeit will er dieser Tage mit Werken von Liszt, Henze und Beethoven beweisen. Zu seinen Schwächen gehört, dass er immer das letzte Wort haben will.
Auch Namen wie Gustavo Dudamel, 33, Riccardo Chailly, 61, oder Daniele Gatti, 53, kursieren in den Diskussionen. Der stärkste Favorit der jüngeren Generation, Andris Nelsons, 36, derzeit Chef in Boston, dirigiert noch einmal Ende April in Berlin. Anschließend haben die Philharmoniker die Wahl.
Anmerkung der Redaktion:
In einer früheren Version des Artikels war zu lesen, dass Herr Petrenko gar nicht erst nach Berlin angereist sei und den Concierge des Hotels beauftragt habe, bei den Philharmonikern anzurufen und die Konzerte abzusagen. Dieses stimmt so nicht. Wie bedauern den Fehler.