Wenn der Konzertbetrieb langsam austrudelt, laden Berliner Musiker Instrumente und Familien in Auto oder Flugzeug, um andernorts weiterzuspielen. Sommerfestivals buhlen um ihre Gunst. Bei kleinen Veranstaltern lockt kein Honorar, stattdessen gilt gern die Devise „Spielst Du auf meinem, spiel’ ich auf Deinem“. Weitere Entscheidungskriterien sind Freundschaftsbande, das Wetter und der Speiseplan.
„Festivals sind anders, wenn keine Gagen bezahlt werden. Man weiß: Alle sind hier, um eine gute Zeit zu haben, gut zu essen und großartige Musik zu machen“, erklärt Amihai Grosz die Faszination. Vor drei Jahren hatte er nur eine Woche echten Urlaub, danach ging das Probejahr bei den Philharmonikern weiter, erinnert sich der Solo-Bratscher. Eigentlich sei es wunderbar für den Kopf, einmal alles zu vergessen. Aber schlecht für die Muskeln. Und außerdem scheint es Musiker eben in die Nähe ihrer Kollegen zu ziehen.
Rolandseck-Festival am Rhein
Acht Jahre lang ist der 34-Jährige für eine Juliwoche an den Rhein gefahren, wo Violinsolist und Ex-Konzertmeister Guy Braunstein gemeinsam mit dem Pianisten und Komponisten Ohad Ben-Ari das Rolandseck-Festival seines Lehrers Chaim Taub wiederbelebt hat. „Unser Publikum weiß schon, dass der ICE hier immer an den leisen Stellen durchrast“, lacht Braunstein auf die Frage nach einer Charakterisierung seines Festivals, das teils in einem historischen Bahnhof, teils im ganz modernen Arp-Museum über dem Rhein stattfindet. Er liebt Festivals dafür, dass man mit Kollegen Musik machen kann, die man während der Saison nicht trifft. Und weil dort eine ganz eigene Atmosphäre herrscht: „Alles ist sehr nah beieinander, Urlaub und Arbeit, Musiker und Publikum.“
Berliner Musiker in Frankreich
Ein Schwerpunkt in diesem Jahr sind Streichquartette. An der Bratsche erlebt man diesmal ausnahmsweise nicht Amihai Grosz. „Ich fahre diesen Sommer nur zu zwei Festivals, bei denen ich einfach nicht ,Nein’ sagen konnte. Das eine ist in Israel, also zu Hause. Und das andere in meiner Lieblingsgegend in Südfrankreich.“ Letzteres Festival, „Musique à l’Emperi“, ist die Gründung von Philharmoniker-Flötist Emmanuel Pahud, Pianist Eric Le Sage und Klarinettist Paul Meyer. Erstmals 1993 spielten die drei im Hof der mächtigen mittelalterlichen Burg Emperi, die sich über der Altstadt von Salon-de-Provence erhebt. Die Akustik war fantastisch, ein Festival geboren.
Grosz reist inzwischen schon im fünften Jahr an, Braunstein ist ebenfalls zum wiederholten Mal dabei. Dieses Jahr geht es in zehn Konzerten um „L’amour“ in allen Facetten. Man wohnt samt Familien in einer Ferienanlage mit ausreichend Proberäumen, isst bei Zikadengesang unter Platanen zu Mittag und hält die nachmittägliche Generalprobe im Burghof in Shorts und Flipflops ab. Am Abend umgibt die Festung die kleine dreieckige Bühne im zweiten Hof wie ein Windlicht. Wenn der Mistral bläst, bieten dem Publikum hellblaue Leihdecken Schutz vor den unvorhersehbaren Böen. Die Musiker sichern ihre Noten geübt mit Wäscheklammern und spielen das Spiel der Elemente mit.
Meisterklasse in flirrender Hitze
75 Kilometer weiter westlich, am Rand der Petit Camargue, macht das Dorf Aigues-Vives für zehn Tage im August eine erstaunliche Metamorphose durch: Ihre Instrumentenkästen auf den Rücken geschnallt, wandern Teilnehmerinnen der Streicher-Meisterklassen von „Aigues-Vives en Musiques“ käfergleich durch die in der Hitze flirrenden Gassen. Sie scheinen überall zu sein und ihr Pensum erfordert Ameisenfleiß: Unterricht, üben, Kammermusik, Kammerorchester, üben… Der Noisette im Café de la Place wird sehr rasch getrunken. Zu Tango spielenden Flügelwesen in bunten Flatterkleidern werden die Musiker in der „Nuit Folle“, wenn es weniger heiß ist und die Kinder der umliegenden Orte auf dem Platz tanzen.
„Normalerweise findet in Aigues-Vives alles hinter hohen Mauern statt. Man bekommt erst eine Ahnung vom Leben, wenn es Abend wird und die Lichter angehen“, beschreibt Violinprofessorin Judith Ingolfsson die Atmosphäre in dem 3000-Einwohner-Ort zwischen Montpellier und Nîmes. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Pianisten und Dirigenten Vladimir Stoupel, leitet sie dieses Jahr zum fünften Mal das von beiden gegründete Festival aus Meisterkonzerten der Dozenten, öffentlichen Masterclasses und Studentenauftritten. Keimzelle war die winzige katholische Kirche Saint Pierre. Zu Besuch bei Freunden im Dorf, hatte Judith Ingolfsson dort eines Abends spontan ihr Instrument ausgepackt und Bach gespielt. Die Kirche füllte sich, man kam ins Gespräch – am Ende hatte das Musikerpaar ein neues Projekt.
Komponisten im Ersten Weltkrieg
„Es sind nur zehn Tage, aber die beschäftigen uns das ganze Jahr über“, erzählt Vladimir Stoupel. „Programm, Studenten- und Dozentenauswahl, Kontaktpflege mit Sponsoren und Gastfamilien, Logistik, Aktualisierungen der Webseite – ganz zu schweigen von den ganzen Kleinigkeiten, die vor Ort anfallen.“ Doch eigenes Musizieren kommt für das Duo Ingolfsson-Stoupel nicht zu kurz. Neben Klassikern wie Schönbergs Streichsextett „Verklärte Nacht“ steht 2014 auch Rares wie Albéric Magnards Sonate für Violine und Klavier auf dem Programm. Sie ist Teil ihres von der französischen Regierung ausgezeichneten Projekts „Die Zeiten des Krieges“. Es erinnert an Komponisten, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind.

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