Es brodelt. Sehr vernehmlich aus dem elektrischen Wasserkocher, der den Samowar ersetzt hat, und sehr offenkundig in der Familie, die sich hier zum Frühstück einstellt. Dazu gibt’s Hausmusik, doch so schön das Lied klingt, der Text ist entlarvend: „Alle schlafen, nur nicht du. / Denn der hoffnungslose Kummer / scheucht von deinem Bett den Schlummer.“ Die erste, die wach ist, ist die mit dem größten Kummer: Mama. Tatsächlich trägt Maxim Gorkis Stück „Wassa Schelesnowa“ (in der Fassung von 1910), das Regisseur Stephan Kimmig fürs Deutsche Theater stark modernisiert hat, den schlichten Untertitel „Eine Mutter“.
Ein Familiendrama
Dass die bei Corinna Harfouch keine Mamutschka-Matrone sein kann, liegt auf der Hand. Ihre Wassa ist eine zähe, aber von Beginn an angezählte Geschäftsfrau, die ihr Unternehmen, das hier keine Reederei, sondern eine Spedition ist, mit ebenso starker Hand zusammenzuhalten sucht wie ihre Familie. Beides scheitert.
Ihr Geschäftspartner will an ihr Geld, der Gatte liegt seit Monaten siech danieder und die Kinder- und Schwiegerkinder sind eine Höllenbrut: Der eine, Pawel (Alexander Khuon), schlappt mit Schlammschuhen durch die Diele und zerdeppert Geschirr, ein nervöser Liebes- und Lebensenttäuschter, den seine Gattin Ljudmilla (Katharina Marie Schubert) mit dem Geschäftspartner Prochor (Michael Goldberg) betrügt. Der andere, Semjon (Christoph Franken), ist ein tumber Nichtsnutz mit einer Furie als Frau (Lisa Hrdina als Natalja). Bleibt Tochter Anna (Franziska Machens), ein toughes blondes Ding, das Verständnis heuchelt, aber auch nur an Mamas Kohle will. Das wollen sie alle, nicht ahnend, dass das Familienunternehmen längst vor dem Bankrott steht.
Das Stück erlebt eine Renaissance
Ein klar kapitalismuskritisches Familiendrama hat Maxim Gorki hier im Nachgang der gescheiterten Russischen Revolution geschrieben, das in den letzten zwei Jahren eine Bühnen-Renaissance erlebt: So hat der lettische Theatermacher Alvis Hermanis den Kampf um Geld und Zuneigung detailverliebt auf die Bühne der Münchener Kammerspiele gebracht, Manfred Karge hat dem Berliner Ensemble eine sehr historische Fassung spendiert und erst vor wenigen Monaten feierte Wassa in Bochum unter der Regie von Jan Neumann Premiere. Zufall?
Nun, das Genre Familiendrama hat dem Theater einiges zu bieten: Eine überschaubare Personenzahl mit großem Identifikationspotenzial, an der sich Generalthemen wie Tugend, Gier oder Lust konzentriert durchbuchstabieren lassen, vor allem aber ist die Familie ein trefflicher Verhandlungsort für den sozialpolitischen Wandel, was in den bürgerlichen Familienhöllen der Skandinavier Ibsen oder Strindberg vielleicht noch weniger, bei Tschechow oder Gorki aber sehr zutage tritt. Oft steht dabei die Frau, die als Alibi für ihre Machenschaften nur die Sehnsucht nach familiärem Zusammenhalt anführen kann, im Zentrum.
Paraderolle für die Harfouch
Im Deutschen Theater war zuletzt Almut Zilcher so eine in Sebastian Hartmanns „Der Löwe im Winter“, eine diabolische Königin der Macht in einer mittelalterlichen Familien-Soap. Wassas wahre Schwester im Geiste aber korrumpiert aktuell an der Schaubühne. Dort hat Thomas Ostermeier Lillian Hellmans „Die kleinen Füchse“ inszeniert, in dessen Zentrum die Bankiersgattin Regina Giddens steht. Auch hier: ein kranker Gatte, den man in den Tod siechen lässt, eine gierige buckelige Verwandtschaft und im Zentrum eine Frau, deren zur Schau gestellte Stärke ihr brüchiges Inneres nur mit kraftraubender Anstrengung verbergen kann. Eine Paraderolle für Nina Hoss.
Wie Wassa Schelesnowa für Corinna Harfouch. Überhaupt ist dies ein Abend der großen Darsteller, doch die Harfouch überragt sie alle: Ihr sehr reduziertes Spiel zeugt von der Fassung, die ihre Wassa zu wahren sucht, die rastlosen Hände sprechen eine andere Sprache, sie trommeln, zittern und werden zur Beruhigung dann energisch in die Seite gestemmt. Sie ist bestimmt und bemitleidenswert zugleich, verhärmt und gebrochen und vor allem sehr, sehr müde.
Kein Wunder, zwar hat Katja Haß auf der Bühne mit elegantem, metallischem Gestänge für Loftatmosphäre gesorgt, doch in Wahrheit ist das hier die reinste Schlangengrube. „Und du Mama“, sagt Semjon seiner Mutter ins Gesicht, „bist die Oberschlange“. Sie dagegen wirft ihren Kindern vor: „Was seid ihr bloß für eine Generation?“ Kein Biss, kein Kampfgeist, keine Leidenschaft.
Plötzlich hat die Mutter eine Pistole
Vielleicht liegt hier der Schlüssel, warum Stücke wie „Wassa Schelesnowa“, gerade so angesagt sind: Es übernimmt eine Generation das Zepter, die aufgrund eigener brüchiger Lebensläufe mit befristeten Jobs und befristeten Beziehungen kaum je die Lebensstabilität ihrer Eltern erreichen wird, die aber bei gleichzeitigem Anspruch auf einen angemessenen Lebensstandard und Selbstverwirklichung mehr denn je auf das von den Eltern Erwirtschaftete angewiesen ist.
Regisseur Stephan Kimmig hat das alles sehr klar konturiert, er hat überzeugend modernisiert und alle Figuren scharf herausgearbeitet, selbst jene, die am Rand der familiären Intrigen stehen wie etwa den Geschäftsführer Michailo, den Bernd Stempel mit feiner Ironie ausstattet oder Wassas Assistenten, der bei Marcel Kohler Prügelknabe mit Streberallüren ist.
Es gibt arg überzeichnete Szenen wie eine übermäßig ambitionierte Prügelei, aber auch sehr schöne wie all die verrutschten, abgewehrten oder erzwungenen Berührungen untereinander. Ein handwerklich extrem präziser Abend ist das geworden, der zudem mit einem überraschenden Schluss aufwartet: Plötzlich hat Wassa eine Pistole, die sie aber nicht benutzt, sondern wortlos auf einen Stuhl legt. Zur freien Verfügung. Gründe gäb’s für alle reichlich.
Deutsches Theater, Schumannstr. 13a, Mitte. Termine: 22., 24. und 25. Mai; 16. und 23. Juni. Karten: 28 441 225