So frech muss man erst mal sein. Wird ein deutscher Regisseur mit einem Film nach Cannes eingeladen (was ja selten genug vorkommt), dann ist er in der Regel selig und dankbar, ist es doch das wichtigste Festival der Welt. Erst recht, wenn es sich dabei noch um einen Filmstudenten handelt. Nicht so aber bei Isabell Šuba.
Die Absolventin der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam (HFF) hatte ihren Kurzfilm bereits auf einem kleineren Festival vorgestellt und den ganzen Rummel auch mit seinen Schattenseiten und Oberflächlichkeiten kennengelernt. Deshalb beschloss sie, in Cannes nicht als sie selbst, sondern als Aspirantin zu reisen. Sie engagierte die Schauspielerin Anne Haug, die sich, die Filmpremiere inklusive, als Isabell Šuba ausgab. Filmte das alles. Und machte daraus ihren ersten Langfilm mit dem illustren Titel „Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste“.
Ich bin eine andere
Šuba entlarvt nicht nur die Scheinwelt des Glitzerevents, wenn sie Cannes auch im Regen zeigt und Produzenten und arte-Redakteurinnen in ihrer Selbstverliebtheit bloßstellt. Nein, sie stellt ihrem gefälschten Ich auch einen falschen Produzenten zur Seite (der Schauspieler Matthias Weidenhöfer) und lässt die beiden in aller Öffentlichkeit ständig miteinander streiten, mitten im Festivaltrubel. Das ist gekonnte Realsatire zwischen Fremdschämen und genialen Einblicken hinter die Kulissen. Und damit kommt Isabell Šuba (die echte mit der falschen) auf ihr nächstes Festival: Am Mittwoch eröffnet „Filme & Brüste“ das Achtung Berlin Festival mit neuen deutschen Filmen aus der Region.
Es ist bereits die zehnte Ausgabe des Festivals, das immer größer wird und sich auch immer größerer Beliebtheit erfreut. Und dort passt Šubas grandioses Stück Guerilla-Kino bestens ins Programm. Ist Improvisation doch ein klarer Trend der Filme, die hier vorgestellt werden. So ging auch Nico Sommer, der im Vorjahr den New Berlin Film Award für „Silvi“ gewann, sein neues Werk mit gerade mal drei Seiten Script an. „Familienfieber“ handelt von einem jungen Pärchen, das seine Eltern gegenseitig vorstellen will – wobei heraus kommt, dass die Mutter des Mädchens mit dem Vater des Sohnes eine Affäre hat. Gerade mal fünf Drehtage hat der Regisseur dafür anberaumt und seine sechs Darsteller in einem Landsitz in Brandenburg zu höchsten improvisatorischen Leistungen angetrieben. Was dem Film eine herrlich unverkrampfte Note gibt.
Böse Zahlen und Lust am Spiel
Dass man auch mal ein ganzes Konzept über Bord schmeißen kann, bewies Oliver Sechting. Der Protegé von Rosa von Praunheim fuhr mit seinem Koregisseur Max Taubert eigentlich nach New York, um dort (wie einst von Praunheim selbst) die Künstlerszene zu dokumentieren. Sechting aber leidet unter inneren Zwängen, vor allem „bösen Zahlen“. Und das wurde vor Ort so übermächtig, dass dies schließlich das Thema des Films wurde: „Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben“.
Die Impro, der Überraschungsmoment, die Lust am Spiel, das kommt nicht ganz aus dem Nichts. Das hat sich in den vergangenen Jahren zu einer immer festeren Größe bei den neuen Berliner Filmemachern entwickelt. Wobei man sich auch bei der Mumblecore-Bewegung im amerikanischen Underground- und No-Budget-Kino bedient.
Freiheit als Dogma
Jacob Lass hat daraus sogar ein Manifest gemacht und es in klarer Parodie auf die einstige Dogma-Bewegung in Dänemark „Fogma“ genannt: wobei das F ganz klar für Freiheit steht. Keine seiner zwölf Regeln sollen einengen oder regulieren, im Gegenteil: Sie sollen Mut, Risiko und Freude propagieren. Lass’ erster Fogma-Film „Love Steaks“ läuft zwar derzeit schon im Kino (und wurde gar für den Deutschen Filmpreis in der Königskategorie, als Bester Film, nominiert), wird aber auch auf dem Festival noch mal gezeigt. Mit einem anschließenden Workshop, bei dem Jakob Lass sein Fogma gleich noch einmal persönlich propagieren kann.
Und dann gibt’s da schließlich noch Underground-Trash vom Feinsten mit dem neuesten Streich des Altfilmers Klaus Lemke, einst Ur-Münchner, der aber spätestens mit „Berlin für Helden“ (2012) ganz in der Hauptstadt angekommen ist. „Kein großes Ding“ ist Lemke, wie man ihn kennt – und zeigt doch, dass er schon immer Impro, Mumblecore und Fogma gemacht hat. Auch als es all diese Begriffe noch gar nicht gegeben hat.
Zum Zehnjährigen eine besondere Retro
Im Jubiläumsjahr laufen elf Spielfilme, zehn Dokumentationen, 18 mittellange und 18 kurze Filme sowie zehn Berlin-Highlights, außerdem zahlreiche Berlin-Filme, die im vergangenen Jahr im Kino liefen und hier noch einmal nachgeholt werden können. Zum Runden beschenkt sich das Festival darüber hinaus mit einer besonderen Retrospektive über das Berlin der 90-er Jahre, das es so heute nicht mehr gibt und in diesem Übergangsstadium etwa in Wolfgang Beckers „Das Leben ist eine Baustelle“ zu einem eigenen Lebensgefühl wurde, wenn auch nur auf Zeit.
Einer der interessantesten Beiträge stammt von Nana Rebhan. In „Welcome Goodbye“ dokumentiert sie die Hassliebe des Berliners zu seiner Stadt als neuem Touristenmagnet. Mit 26.942.082 Übernachtungen allein im Jahr 2013 hat sich die Besucherzahl innerhalb von einem Jahrzehnt mehr als verdoppelt. Das geht nicht ohne Blessuren. Und so kommen Touri-Manager und Metropolenforscher genauso zu Wort wie genervte Anwohner und Touri-Hasser. Dazwischen aber stellt sich, ganz im Zeichen der Improvisation, ein Otto Normalberliner die Frage, wie er selbst von dem Boom profitieren kann. Und bietet Führungen mit ihm als waschechtem Berliner an. Eine Stadtrundfahrt durch die Berliner Gesinnung.
Achtung Berlin Festival: 9.–16. April 2014 in den Kinos Babylon Mitte, International, Tilsiter Lichtspiele, Filmtheater am Friedrichshain und Volksbühne. Programm: www.achtungberlin.de