Claudio Abbado war kein Mann der Worte. Statt Luft schien er Musik zu atmen. „Bitte noch einmal“, sagte er zuletzt in den Proben mit seinem Orchestra Mozart. Und dann: „Noch einmal, bitte.“ Oft, ohne etwas zu erklären. Ohne diese weltlichen Musik-Floskeln von „mehr Crescendo“, „betonen Sie den dritten Schlag“ oder „lassen Sie uns die Oboe hören“.
Abbado vertraute dem Klang in seiner Entstehung, darauf, dass seine Musiker irgendwann spüren würden, wenn die bewusste Interpretation aufhört und sich das Gefühl der einzig wahren Richtigkeit einstellt – wenn Musik zum Sein wird, wenn alles, was in der Welt ist, sich begegnet, wenn der Zustand des absoluten Geistes eintritt. Abbado war Meister dieses Seins. Keiner dirigierte die Anfangs-Akkorde der Zauberflöte selbstverständlicher als er, keiner zog so unbeladen von Pathos und normal zum heiligen Gral im „Parsifal“ – und immer wieder Mahler: Niemand ließ all die Gegensätze der Menschlichkeit so gewalttätig und gleichsam verständnisvoll für die Dunkelheit unseres Daseins aufeinanderkrachen wie er.
Wenn es stimmt, was Papst Benedikt einst sagte, dass Musik ein Weg zu Gott sei, dann ist Abbado in den letzten Jahren ein Pilger dieses Weges gewesen. Unzählige Male war er dem Tod begegnet, seit damals, 2000, als es anfing mit diesem verfluchten Krebs. Der „Parsifal“, hat er einmal gesagt, sei „die einzig wirksame Medizin gewesen“.
Was er meinte, sah jeder, als er 2001 in der Berliner Philharmonie Giuseppe Verdis „Requiem“ dirigierte. Da wurde Abbado zum Schmerzensmann, gezeichnet und ausgemergelt. Dieser vom Tod geküsste Körper ließ die Musik als Ringen der Menschheit entstehen: dieses milde, innere Lächeln schon am Anfang, wenn die Bässe das Totenreich beschreiben, diese knochig langen Finger, die in den im Raum liegenden Klang des „Kyrie“ zu greifen schienen, und dieses schmerzverzerrte Gesicht zum Donnern des „Dies Irae“.
>> Die Ära Abbado - interaktive Chronik (www.berliner-philharmoniker.de)
Damals kam es während der Proben auch zu durchaus weltlichen Künstlerauseinandersetzungen. Angela Gheorghiou begehrte auf, und Abbado fluchte: „Diese blöde Kuh, wenn sie nur nicht so genial singen würde.“ Er war ein Mensch als Musiker und ein Meister der Vergebung. Und als Musiker war er ein Mensch, der seinen Klang nicht aus den Dingen holte, nicht aus den Worten, sondern aus dem Raum hinter der Grenze unseres Bewusstseins, die er uns mit seinen Konzerten eröffnete: ein Stück Himmel auf Erden.
Das Alte klang neu, das Neue war unbekannt
Abbado war aber auch ein handfester Kumpel, der mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Er hatte London, Mailand, Chicago und Wien hinter sich, als der Cellist Klaus Häussler am 8. Oktober 1989 vor die Berliner Presse trat und bekannt gab, dass die Philharmoniker Claudio Abbado zum Nachfolger von Herbert von Karajan gewählt hätten.
Das Konzert zum Mauerfall dirigierte noch Daniel Barenboim, aber schon im Dezember machte der Neue klar, wohin seine Reise gehen würde: Schuberts „Unvollendete“, Mahlers „Titan“ und Wolfgang Rihms „Dämmerung“ standen auf dem Programm: das Alte klang neu, das Neue war unbekannt. Damals galt Barenboim als Favorit, aber das Orchester wollte vollkommen neuen Wind. Heute wissen wir: Kein anderer Dirigent war besser geeignet, die Berliner Philharmonie in eine neue Zeit zu führen.
Musik als Selbstverständlichkeit des Ausdrucks
Es ist natürlich Quatsch und Verklärung, zu behaupten, dass Abbados größte Musik Ergebnis seines Leidens war. Im Gegenteil. Abbado wuchs mit Musik auf, seine Eltern waren Geiger und Klavierlehrerin, schon bei einem Opernbesuch in Mailand war dem Jungen klar: „So etwas will ich auch machen.“ Mit 19 Jahren spielte er in einem Hauskonzert dem Dirigenten-Legende Arturo Toscanini Bachs c-Moll-Konzert vor, gemeinsam mit Daniel Barenboim und Zubin Mehta besuchte er einen Dirigierkurs in Siena.
Aber Abbado war anders als die anderen. Musik war für ihn keine Kunst, sondern Selbstverständlichkeit des Ausdruckes. Weil er im Leben stand. Er war der politische Dirigent, der mit dem linken Komponisten Luigi Nono und dem noch linkeren Pianisten Maurizio Pollini Musik als Zeichen eines politischen Menschenbildes verstand.
In Mailand führte er nicht nur neues Repertoire ein, sondern krempelte die schludrigen italienischen Theaterstrukturen um – und ging schließlich im Streit. Das museale Wien beglückte er mit Uraufführungen, und immer wieder protestierte er gegen Kulturabbau und politische Hasardeure wie Silvio Berlusconi. „Für das Leben lernt man nur durch Haltung“, war einer der Sätze, die Abbado zu seinem 80. Geburtstag der „Zeit“ diktierte. Er war ein Arbeiter-Vertreter, dessen Arbeit in der Pflege der Selbstverständlichkeit des Handelns lag. „Nein“, sagte er, Und: „Musik hat für mich nichts mit Arbeit zu tun, sie ist eine große, tiefe Leidenschaft.“ Sie war ihm stets: Haltung.
„Er wollte nicht, dass ich ihn Maestro nenne“
Berlin hatte den intellektuellen Menschenfreund geholt, um an den Grundfesten von Karajans diktatorischem Scharoun-Bau zu rütteln. Und das tat Abbado kompromisslos. Seine erste Maßnahme: Wer gemeinsam musiziert, muss miteinander befreundet sein.
„Er wollte nicht, dass ich ihn Maestro nenne“, erinnert sich der Oboist Albrecht Mayer, „er wollte, dass ich Claudio sage.“ Undenkbar nach Karajans Musik-Patriachat. „Das war eine Revolution“, sagt Mayer, „und Claudio wurde so etwas wie ein musikalischer Vater für mich.“ Nicht nur für ihn: Junge Musiker kamen in das Ensemble, und der Dirigent nahm sie unter seine Fittiche.
Sein Ziel war die Vielfalt: Barenboim dirigierte weiter, Nikolaus Harnoncourt, der Experte für Alte Musik, wurde eingeladen, Simon Rattle, der Neutöner aus England, kam zum ersten Mal nach Berlin, ebenso wie der Deutsch-Romantiker Christian Thielemann. Sergiu Celibidace kehrte zurück, und Carlos Kleiber dirigierte sein letztes Konzert in Berlin.
Abbado kam dem Ziel, ohne Worte zu musizieren, immer näher
Abbados Größe bestand darin, sich klein zu machen, wenn es dem Klang diente. Er wusste, dass die Berliner nichts nötiger hatten als Freiheit, Experiment und Expansion. Kaum eine Ära war so vielfältig, so aufregend, so spannend wie diese Anfangsjahre. Ganz nebenbei hat er in seinen Konzerten die Klangzone des Orchesters erweitert: Abbado dirigierte den Soundtrack des wiedervereinigten Deutschlands, Musik ohne Worte als Weltsprache der Menschlichkeit. Niemand war zu diesem Zeitpunkt richtiger in der Hauptstadt als er, der Meister des klangvollen Seins.
Sofort begeisterte der Mann mit der leisen Stimme, den lässigen Pullis und den dunklen Haaren seine Musiker. „Wenn das Repertoire und seine Interpretation 38 Jahre lang bei einem einzigen Dirigenten liegt, so wie in Berlin bei Herbert von Karajan, ist es selbstverständlich, dass das Neue für Irritationen sorgt – wenn da plötzlich andere Tempi und Phrasierungen sind“, erinnert sich Philharmoniker Hansjörg Schnellenberger. Aber es sei eine Stärke von Abbado gewesen, sich auf derartige Konflikte nicht einzulassen, sondern seiner Klangvorstellung zu vertrauen und die Musiker mitzunehmen.
Er selbst beschrieb die Arbeit so: „Es gibt 100 Musiker in einem Orchester, und es gibt immer einen, der vielleicht nicht die gleiche Idee hat wie die anderen. Besonders, wenn es um Gewohnheiten geht. Mit der Zeit habe ich in Berlin gemerkt, dass ich nicht mehr so viel erklären musste wie am Anfang. Nach einiger Zeit haben wir uns sehr gut verstanden.“
Abbado kam seinem Ziel, ohne Worte zu musizieren, immer näher. Berlin liebte ihn. Und er liebte die Stadt: Nirgendwo würden so viele junge Menschen in die Konzerte kommen, nirgendwo anders auf der Welt wären die Uraufführungen von Luciano Berio so erfolgreich gewesen.
Die alljährliche Rückkehr als musikalisches Ereignis
Trotzdem, der Umbau des Orchesters hinterließ Spuren. Der Chefdirigent gab den Berliner Philharmonikern zurück, was in den späten Karajan-Jahren oft nur noch Alibi war: die Selbstbestimmung. Und er riskierte, dabei Opfer seiner eigenen Offenheit zu werden. „Zu wenige Proben“, hieß es irgendwann. „Er ist ein Meister des Moments, der Aufführung – aber in der Vorbereitung vermissen wir Konkretes.“ Abbados zunehmende Sprachlosigkeit zehrte an den Nerven des Orchesters. Es war Tyrannen gewohnt, Dirigenten als Diktatoren, die Chemie mit dem Kumpel-Maestro stimmte nicht mehr – und die Musiker wollten sich wieder selbst bestimmen. Notfalls auch gegen ihren Chef.
Selbst wenn das alles heute vergessen ist, wenn Abbados alljährliche Rückkehr nach Berlin zu den größten musikalischen Ereignissen der Stadt zählte – erst nach seinem Rücktritt wurde vielen klar, was sie konkret vermissten: Seine Musikalität im Moment, seine Inspiration, seinen Geist.
618 Mal stand er als Chef auf dem Podium, 693 dirigierte er die Berliner Philharmoniker, und jede Rückkehr war eine Zeitreise in die große Aufbruchsära des Orchesters. Der Kumpel-Dirigent wurde endlich als Autorität empfangen: die Philharmoniker gaben hochkonzentrierte Stuhlkantenkonzerte.
Zehn Jahre Reisen zwischen Himmel und Erde
Ich persönlich traf Abbado das letzte Mal in Baden-Baden. Er saß in der Kantine zwischen den jungen Musikern seines Orchestra Mozart und aß Spaghetti, eines der wenigen Nahrungsmittel, die er noch zu sich nehmen konnte. Aber er strahlte. Weil er von „seinen“ Musikern umgeben war. Er setzte sich zu ihnen an den Tisch, redete, leise, besonnen – die jungen Menschen hingen an seinen Lippen. Dann zog er sich wieder zurück, brauchte Ruhe, Stille, um den Klang zu finden, um Musik entstehen zu lassen.
Ein Mann, der mit dem Tode kämpfte und Musiker, die ihr Leben noch vor sich hatten. Ja, auch das war Claudio Abbado: Ein musikalischer Förderer, ein Prometheus, der die Flamme teilte und weiterreichte. Während die Musiker aus Venezuelas „El Sistema“ heute zu einer bunten Festspiel-Tingel-Truppe geworden sind, war er der erste, der immer wieder ernsthaft nach Südamerika reiste und Talente wie Gustavo Dudamel förderte. Wenn Abbado das „Simon Bolivar Jugendorchester“ dirigierte, wurden keine Kontrabässe in venezolanischen Trainingsanzügen gedreht, sondern Gustav Mahler mit äußerster Innerlichkeit in das Musikalische Sein überführt.
Wie oft war der todgeweihte dem Sensenmann entkommen? Behandlungen, Auszeiten, Konzerte, Behandlungen, Auszeiten – Konzerte. Mehr als zehn Jahre reiste Claudio Abbado regelmäßig zwischen Himmel und Erde hin und her. Ein anstrengendes Pendeln, dessen überirdische, durch Schmerz bezahlte Erkenntnisse er stillschweigend in Musik erzählte. Immer wieder hat er uns ein Stück Himmel mitgebracht.
Abbados letzte Aufnahme erscheint nun
Seit 2002 übernahm Abbado keinen philharmonischen Tanker mehr. Wo sollte er nach den Berliner Philharmonikern auch hin? Stattdessen erfand er das Geschäft der klassischen Musik neu. Nicht die unflexiblen, bürokratischen Klang-Institutionen waren sein Ziel, sondern Ensembles, die allein vom Geist getragen wurden: Sein Lucerne Festival Orchester ist vielleicht einer der beeindrucktesten Klangkörper unserer Zeit. Musiker, die seine Freunde sind (darunter viele Berliner Philharmoniker), trafen sich für ein Ziel: das leidenschaftliche Musizieren. „Ich habe versucht, kein Konzert zu verpassen“, sagt Albrecht Mayer, „weil in diesem Orchester ein Geist wehte, der nirgendwo anders zu finden war – die pure Leidenschaft.“ So war es auch beim Mozart-Orchester und bei allen anderen Ensembles, die Abbado gründete etwa das Mahler Chamber Orchestra.
Um so erschreckender waren die Meldungen der letzten Tage: Schon vor einigen Wochen hatte Abbado die anstehende Tour des Orchestra Mozart abgesagt. Er musste mal wieder in den Himmel reisen. Und das zu einem Zeitpunkt, da sein Ensemble mit Musikern aus Venezuela und Europa in ernsthafter Finanznot steckte.
Dieser Tage wird die letzte Aufnahme Claudio Abbados bei der Deutschen Grammophon erscheinen: Gemeinsam mit Martha Argerich und dem Orchestra Mozart hat er zwei Mozart-Klavierkonzerte eingespielt. Argerich ist eine dieser kongenialen Abbado-Partnerinnen, die das Credo seines Musikzierens verkörpert: „Nicht das Reden oder das Spielen, bilden den Kern der Musik“, erklärte der Dirigent gern, „sondern das Hören gehört zum Wichtigsten, wenn man Musik macht.“ Mozart. Das passt nicht schlecht. Er ist vielleicht der größte Komponist des Seins – auch er ein begnadeter Menschenliebhaber und Meister der selbstverständlichen Haltung.
Nun wissen wir, dass Abbado dieses Mal ohne Rückfahrkarte in den Himmel gefahren ist, dass sein Martyrium Ruhe findet, dass nun auch sein Körper zum Sein wird. Und wir spüren, wie klein das Wort im Angesicht des Klanges ist. Berlin, Italien und die Welt haben einen der größten Musiker verloren – den Menschen Claudio Abbado. Mit ein bisschen Glück können wir, wenn wir dieser Tage Ruhe finden, ein wenig von seiner Musik atmen.
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