Irgendwie passt der Hochzeitsmarsch von Felix Mendelssohn Bartholdy nicht in die Philharmonie, es gibt reihum verstohlenes Lächeln im Parkett. Ganze Generationen sind zu dieser Musik würdevoll verkrampft an den Altar geschritten. Aber nun führt Claudio Abbado vor, wie viel Liebe, Drängen, Stolz in diesem Stück aus dem „Sommernachtstraum“ steckt. Der italienische Stardirigent und frühere Chef der Philharmoniker, der nur einmal im Jahr in seine alte Wirkungsstätte nach Berlin kommt, kennt sich mit menschlichen Leidenschaften aus.
Keine Spur einer Verklärung
Im nächsten Monat wird Abbado 80, aber im Herzen ist er irgendwie immer noch ein Romantiker. Das ist in seinem aktuellen Konzertprogramm mit den Berliner Philharmonikern nicht zu überhören. Da gibt es keine Spur einer Verklärung oder gelangweilter Überdrüssigkeit, mit seinen von jeher flüssigen Dirigierbewegungen formt, lockt er geradezu die klingenden Wahrheiten aus den Noten heraus. Dirigenten seines Alters und seiner künstlerischen Größe präsentieren erfahrungsgemäß nur noch Werke, die ihnen etwas bedeuten, die sie für wertvoll erachten, um ihnen ein Stück der kostbaren Lebenszeit zu widmen. Diesmal stehen zwei Hauptwerke aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem Programm, die zeitlich gar nicht weit auseinander, aber zwischen denen dennoch Gefühlswelten liegen.
Es ist schließlich die Zeit, in der Komponisten, die erst viel später als Romantiker in eine gemeinsame Schublade gesteckt werden, zu sich selbst finden. Der Blick der Klassiker wie Beethoven oder Mozart auf die Menschen und das Miteinander wird abgelöst von künstlerischen Egomanien, des auch blechgepanzerten Selbstbetrachtens. Dazu passt Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique“, ein Liebesalbtraum, den Abbado in der zweiten Hälfte voller Sehnsucht, Einsamkeit, Trotz vorführen lässt.
Abbado kombiniert in seinem Konzert die Mendelssohnsche Liebesfähigkeit mit Berlioz’ Selbstsucht und bringt diesen Kontrast voller Leidenschaft und Akkuratesse zum Klingen. Letztlich belässt Abbado beide Stimmungsbilder in der Diesseitigkeit, und wenn schon romantisch, dann ist Mendelssohn derjenige, der in der stolprigen Leichtfüßigkeit etwas Träumerisches, eine zwielichtige Feenwelt beschwört. Bei Berlioz offenbart Abbado mehr das Effektvolle, das Überwältigende des mächtigen Orchesterapparats. Es hat etwas Selbstzerstörerisches in dieser Interpretation, es ist eine brüchige Fassade, die die Philharmoniker aufs Virtuoseste errichten.
Abbado bevorzugt Mendelssohn
Gern ist zitiert, wie sich die beiden Komponisten 1831 in Rom erstmals begegneten, der ältere Berlioz legte dem musikalischen Überflieger Mendelssohn Teile einer Kantate vor. Mendelssohn fand sie miserabel. Berlioz schrieb später, Mendelssohn hatte damit zwar Recht, aber nicht das Recht, es auch zu sagen. Womöglich ist Mendelssohn mehr der Komponist der Wahrheit, Berlioz des Verschweigens. Beide brauchen dazu ein lautstarkes Orchester.
Allein das eisige Einschwingen in den Walzer-Ball bei Berlioz lässt ahnen, dass sich Abbado mehr zum sonnigen Mendelssohn hingezogen fühlt. Der Berliner Komponist empfand seinerzeit die „Symphonie fantastique“ seines Pariser Kollegen in Teilen von kalter Leidenschaftlichkeit, den Komponisten affektiert in seiner Art, den Damen die eigene Verzweiflung zu präsentieren. Aber genau davon lebt die Symphonie, die eine „Episode aus dem Leben eines Künstlers“ erzählt. Der biografische Hintergrund ist schnell beschrieben: Der Komponist wurde von einer Frau hingehalten. Abbado hält aber die Philharmoniker nicht zurück, wenn sie das Martialische hervorkehren wie im „Gang zum Richtplatz“ oder das Entgleiten, das Verzerren der Realität in einer Sabbatnacht. Es wird mächtig viel aufgewühlt, bis das Publikum in der Philharmonie es in Jubelrufen aus sich herauslässt. Im Übrigen hat Berlioz später jene Dame, die ihn so verrückt gemacht hat, geheiratet.
Die Philharmoniker folgen Abbado am Sonnabend voller Hingabe und irgendwie auch Vertrautheit. Was kaum verwundert: Obwohl er heute leider nur noch selten, viel zu selten am Pult der Philharmoniker steht, ist er doch seit fast fünf Jahrzehnten mit dem Klangkörper bestens vertraut. Das erste Konzert fand im Dezember 1966 mit Hindemith, Prokofjew und Schubert statt. Inzwischen ist Abbado ein altehrwürdiger Maestro, den viele Musikliebhaber geradezu anbeten und der sogar von einem eigenen Fanclub durch die Welt begleitet wird. Die Abbadiani machen in der Pause von sich ein Foto im Foyer. Es ist eine beachtliche Gruppe, die da posiert.
Der Nachfolger von Karajan
Claudio Abbado ist ein Guru, der keiner sein will. Und dieser Kult hängt gerade auch mit Berlin zusammen. Überrascht war die Musikwelt, als er 1989 zum Nachfolger von Herbert von Karajan gewählt wurde. Er trat vor sein neues Orchester und erklärte ihnen, er sei der Claudio. Der autoritäre, konservative Karajan wurde von Claudio, der immer ein bisschen links und hemdsärmlig wirkte, abgelöst. Für diesen neuen Zeitgeist wird er bis heute bewundert. Aber da gibt es auch den Abbado, der im Jahr 2000 seine Krebsdiagnose erhielt, große Teile seines Magens verlor, abmagerte und dennoch nie aufgab. Ein wenig erinnert er an einen früheren Papst, der im Leiden die Wahrheit gefunden zu haben schien. Der schmächtige Abbado hält sich ebenso aufrecht am Dirigentenpult, seine Kunst schenkt vielen Hoffnung.
Bei den Berliner Philharmoniker wurde er 2002 von Simon Rattle abgelöst. Aber die drei Konzerte mit Claudio Abbado sind jetzt wieder ein Höhepunkt der Philharmoniker-Saison. Abbado wird am Ende des ersten Konzerts, nach rund zwei Stunden und zwanzig Minuten, mit stehenden Ovationen gefeiert. Ziemlich erschöpft wirkt er, aber auch glücklich. Das zweite Konzert am Sonntag wurde international in Kinos übertragen, allein in Berlin waren es fünf Kinos. Das dritte Konzert folgt am heutigen Dienstag. Es wird, auch das sei einmal erwähnt, sein insgesamt 693. Konzert mit den Berliner Philharmonikern sein.