Die Berliner Staatsoper hat pünktlich zum Jahresende ihre Erfolgsmeldung rausgegeben. Demnach erreichte das im Schiller-Theater residierende Opernensemble erneut eine Spitzenauslastung von 88 Prozent. Das ist beachtlich. Der Mitteilung haftet dennoch etwas Kurioses an: Ursprünglich sollte die sanierte Staatsoper Unter den Linden in diesem Herbst glanzvoll wieder eröffnet werden, was ja verschoben wurde, stattdessen ist am Ende des Jahres festzuhalten, dass die Staatsoper jetzt im Schiller-Theater angekommen ist. Mit allem Glamour, mit aller Perfektion, allen Alltäglichkeiten.
Da kann Intendant Jürgen Flimm immer wieder betonen, dass er und seine Leute Heimweh ins Traditionshaus nach Mitte haben. Die allgemeine Identifikation beginnt schon damit, dass mittlerweile kaum noch jemand von der Staatsoper im Schiller-Theater spricht. Schiller-Theater genügt. Vor drei Jahren mussten sich die Opernleute dort mit 82 Prozent Auslastung zufrieden geben. Inzwischen ist das Haus vom Publikum angenommen worden. Der ganze Umzug nach Charlottenburg, in direkter Konkurrenz zur Deutschen Oper, war durchaus ein Risiko.
Andrang auf dem Bebelplatz
Insgesamt kamen in diesem Jahr 259.400 Besucher zu den Vorstellungen und Konzerten, davon 188.600 Besucher zu 341 Veranstaltungen in Berlin, 32.800 Besucher zu den internationalen Gastspiel-Konzerten von Daniel Barenboims Berliner Staatskapelle in St. Petersburg, Bukarest und in London bei den BBC Proms. Einen Rekord konnte auch die „Staatsoper für alle“ im Sommer verzeichnen: 38.000 Leute harrten andächtig beim Open-Air-Konzert der Staatskapelle Berlin auf dem Bebelplatz aus. Für das Opernhausorchester war es buchstäblich ein Ausflug in die Bauwüste. Nebenan stand eingezäunt das unfertige Opernhaus. Intendant Flimm, der von Amtswegen auf die Sanierungsmisere hinzuweisen hat, nahm sich freundlich zurück. Er bat die Besucher, das Opernhaus zu streicheln, damit es schneller wachse. Aber Baustellen in Berlin ticken bekanntlich anders. Voraussichtlich erst 2016 wird die Staatsoper eröffnet.
Die sich hinziehende Sanierung hat zu einer anderen Präsenz geführt. Normalerweise hätte Stardirigent Daniel Barenboim die Saison der Scala eröffnet, für die Wiedereröffnung seines Berliner Opernhauses hatte er aber Mailand abgesagt. Nun war er also in Berlin, im Schiller-Theater. Überhaupt hatte man das Gefühl, der Generalmusikdirektor war in diesem Jahr ständig da und obendrein in künstlerischer Hochform. Für ein volles Haus sorgten die drei kompletten Aufführungsserien von Wagners „Der Ring des Nibelungen“ in der Regie von Guy Cassiers. Von Barenboim zehrten auch die beiden letzten Premieren mit Starchoreografin Sasha Waltz und Filmregisseur Philipp Stölzl.
Anna Netrebko probte zwei neue Rollen
Verdis „Il trovatore“ lebte allerdings zuerst von Anna Netrebko. In Berlin probte die russische Starsopranistin gewissermaßen zwei neue Rollen: Zum einen die Leonora in der Oper, zum anderen den Single im Leben. Kurz vor der Premiere hatte sie ihre Trennung vom Bassbariton Erwin Schrott öffentlich bekannt gegeben. Auf der Bühne war von emotionalen Verwirrungen allerdings nichts zu verspüren. Die Netrebko ist rundum perfekt. Vielleicht war auch deshalb nichts zu bemerken, weil Philipp Stölzl ihr eine Comic-ähnliche Figur auf den Leib inszeniert hat. Die Netrebko als Alice im Verdi-Wunderland – das war wohl auch das Berliner Opernereignis des Jahres. Mehr Oper geht nicht. Mit einer solchen Diva wie der Netrebko fällt es auch leichter, über die Kurzatmigkeit des 72-jährigen Placido Domingo hinweg zu hören, der inzwischen ja nicht mehr als Strahletenor, sondern als Kavaliersbariton die Bühne betritt.
Der Berliner Film- und Opernregisseur Philipp Stölzl, dessen Romanverfilmung von Noah Gordons „Der Medicus“ mit Ben Kingsley in einer Hauptrolle gerade in den Kinos angelaufen ist, war in diesem Jahr so etwas wie der Hausregisseur der Staatsoper. Der Daniel mag ihn sehr, meint Intendant Flimm. Mit Barenboim hat Stölzl den Verdi gemacht, ein ausverkauftes Ereignis. Aber auch Wagners „Fliegender Holländer“ mit Daniel Harding am Pult war eine überraschend schlüssige und fantasievolle Inszenierung. Stölzl ist ein klassischer Geschichtenerzähler. Offenbar kommt diese Gattung endlich wieder in Mode.
Darüber hinaus war auch Stölzls OffenbachInszenierung von „Orpheus in der Unterwelt“, die bereits im Dezember 2011 ihre Premiere hatte, als dritte Produktion zu sehen. Für Flimm offenbaren gerade dessen gut besuchte Aufführungen eine „hochinteressante Bindung ans Publikum“. Normalerweise würden die neugierigen Berliner immer nur in die Neuproduktionen gehen wollen, meint er. Bereits die Wiederaufnahme einer Inszenierung wird zum Auslastungsrisiko für die Opernmacher. Der wieder gekehrte „Orpheus“ ist blendend gelaufen. Flimm ist zufrieden. 2015 macht Stölzl seine nächste Staatsopern-Inszenierung.
Der tragische Fall der Sasha Waltz
Sasha Waltz ist ein ganz anderer Fall. Und auch ein tragischer. Ihre Choreografie des „Sacre“-Abends ist gefeiert worden, die beiden Vorstellungen waren ausverkauft. Daniel Barenboim hat der Berliner Choreografin bereits die Opernregie für Wagners „Tannhäuser“ bei seinen Festtagen 2014 angetragen. Überhaupt hat er Sasha Waltz einen roten Teppich in die Staatsoper ausgelegt. Demgegenüber musste die international bekannte Künstlerin, die zur neuen deutschen Tanz-Mutter nach Pina Bausch hätte werden können, gerade die Entlassung sämtlicher Tänzer ihrer Compagnie bekannt gegeben, weil der Senat und das Abgeordnetenhaus ihre keine zusätzlichen Subventionen bewilligten. Ein peinlicher Vorgang für die Stadt.
Zu den Highlights des Berliner Opernjahres gehörte auch Rimsky-Korsakows „Die Zarenbraut“ mit Barenboim, hervorragenden Sängern und einer ebenso archaischen wie hochtechnisierten Inszenierung des Russen Dmitri Tcherniakov. Intendant Flimm bezeichnet den Regisseur als anstrengend, aber er sei so unheimlich nett. Dem könne man nichts abschlagen. Das war auch gut so.