Schön ist es nicht, das Haus an der Friedrichstraße, direkt am U-Bahnhof Kochstraße gelegen. In dem tristen, schmucklosen Bau befindet sich ein Automaten-Casino, ein verlassenes Restaurant wartet nebenan auf neue Pächter. Nur eine „Berliner Gedenktafel“ erinnert an den prachtvollen Unterhaltungstempel, der hier einst stand. Im Apollo-Theater wirkte ab 1893 der Komponist Paul Lincke als Kapellmeister. Am 1. Mai 1899 erlebte hier seine Operette „Frau Luna“ ihre Uraufführung. Lieder aus dieser burlesk-fantastischen Ausstattungsoperette, etwa „Schenk mir doch ein kleines bisschen Liebe“ und vor allem die „Berliner Luft“, gehören noch heute zum Liedgut der Spreemetropole.
Doch „Frau Luna“ selbst war in den letzten Jahren von den Spielplänen verschwunden. Wie überhaupt das Genre Operette in Berlins Theaterlandschaft zur fast ausgestorbenen Spezies zählte, die man allenfalls noch bei bunten Nachmittagen antraf. Aber unverhofft kommt oft. Linckes turbulente Mondfahrt findet wieder statt. An einem Ort allerdings, wo man ihn so gar nicht vermuten würde. In der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz wurde „Frau Luna“ gerade von Herbert Fritsch in Szene gesetzt. Irrwitzig, frivol, tuntig, sprich: trashig und mit einer elektronischen Musik, deren Disco-Sound an die 1980er-Jahre gemahnt.
Drogen und feuchte Träume
Mit einem rosa Luftballon verfrachtet sich der Mechaniker Fritz Steppke ins All. Der Verdacht liegt nahe, dass dieser Trip eher in der Fantasie aller Beteiligten stattfindet, begünstigt durch irgendwelche Drogen. Jedenfalls lassen sich auf dem Mond erotische Träume gleich welcher Art besser ausleben als zu Hause in der Mulackstraße, ob mit der von Ruth Rosenfeld stimmlich wie darstellerisch großartig verkörperten Frau Luna oder mit Prinz Sternschnuppe, den Hubert Wild mitreißend als Mega-Schwuchtel und totale Diva anlegt.
„Verrückte muss man toben lassen“, dieser Satz trifft eigentlich auf den ganzen Abend zu. Von den Darbietungen einer Marika Rökk oder eines Johannes Heesters ist dieses Spektakel mindestens so weit entfernt wie der Mond von unserem Planeten. So wie Fritsch an gleicher Stelle dem alten Boulevard-Schwank „Die spanische Fliege“ mit einer total überdrehten Version zu neuem Publikum (und zu einer Einladung zum Theatertreffen) verhalf, verpasst er nun dem angestaubten Berliner Operetten-Klassiker eine Portion Viagra. Auf die Idee, „Frau Luna“ zu spielen, kam er angeblich durch Barrie Kosky, den Intendanten der Komischen Oper Berlin. Der brach in seinem ersten Jahr an der Behrenstraße, wo vor dem Krieg das Metropol-Theater Revuen und Operetten präsentierte, vehement und virtuos eine Lanze für ein Genre, das bis vor kurzem als Trivialunterhaltung geschmäht wurde.
Mitreißende Jazz-Kompositionen
Kosky: „Hinter der Musik von Kálmán, Strauß und Abraham stehen die selben menschlichen Themen wie bei Mozart, Verdi und Puccini – nur eben ausgedrückt in einem anderen musikalischen Format.“ Und gerade diese Musik ist es, die bei „Ball im Savoy“ unter Adam Benzwis Dirigat buchstäblich vom Sitz reißt, mit Jazz, Ragtime, Foxtrott und Shimmy. Das fetzt ja richtig, denkt sich der erstaunte Zuhörer und freut sich dazu über die unglaubliche Liebe zum Detail in Koskys Inszenierung, über mitreißende Tanzszenen, sprudelnden Spielwitz und sensationell aufgelegte Darsteller, vor allem Dagmar Manzel und Katharine Mehrling in den weiblichen Hauptrollen sowie Musical-Urgestein Helmut Baumann als Mustafa Bey, einem türkischen Attaché und Frauenversteher.
Das turbulente Spiel um Liebe, Treue und Seitensprünge wurde am 23. Dezember 1932 als Produktion des Metropol-Theaters im Großen Schauspielhaus uraufgeführt. Es war die letzte Berliner Produktion des Kapellmeisters und Komponisten Paul Abraham. Kurz darauf kamen die Nazis. Abraham ging als Jude in die Emigration, ebenso sein Librettist Fritz Grünwald. Der zweite Librettist von „Ball im Savoy“, Fritz Löhner-Beda, starb später in Auschwitz. Unzählige Komponisten, Librettisten, Sänger, Tänzer, Dirigenten und Musiker, dazu Produzenten und Theaterleiter wie in Berlin die Gebrüder Rotter, ohne die Operette in Berlin undenkbar gewesen war, wurden aus dem Kulturleben „entfernt“. Das Genre selbst, in der Bevölkerung außerordentlich beliebt und damit auch für die neuen Machthaber unverzichtbar, erfuhr eine radikale Umgestaltung.
Von Paris über Wien nach Berlin
Aus dem Paris eines Jacques Offenbach über die Wiener Operetten des Franz von Suppé oder des Walzer-Königs Johann Strauß war diese Unterhaltungskunst Ende des 19. Jahrhunderts nach Berlin gelangt. Komponisten wie Paul Lincke, Jean Gilbert und Walter Kollo brachten einen typisch Berliner, sprich zackigen Tonfall in die Operette. Berlin löste Wien nach dem Ersten Weltkrieg als Zentrum der deutschsprachigen Operette ab. Musikalisch und thematisch wurden die Operetten, etwa Eduard Künnekes „Vetter aus Dingdsa“ (1920), Erik Charells Revue-Operette „Casanova“ oder Abrahams Stücke „Viktoria und ihr Husar“ und „Die Blume von Hawaii“, erfolgreichstes Bühnenwerk der Weimarer Zeit, zunehmend kosmopolitisch. Bei der Ufa entwickelte sich zudem die Tonfilm-Operette mit Kassenschlagern wie „Die Drei von der Tankstelle“ (1930) oder „Der Kongress tanzt“ (1931). Hinzu kamen freche Kabarett-Operetten wie Mischa Spolianskys „Wie werde ich reich und glücklich?“
Nach 1933 wurde der internationale Stil verboten und von biederen Klängen aus der Feder „arischer“ Tonkünstler ersetzt. Da die Unterhaltungskultur der 20er-Jahre insgesamt als „entartet“ angesehen wurde, griff die Reichsdramaturgie auf die Walzer-Operetten des 19. Jahrhunderts sowie auf altertümelnde Singspiele zurück, „veredelt“ durch Opernsänger, deren Fähigkeiten ganz andere waren als die der Operettenstars zuvor. Gespielt wurde an staatlichen Bühnen, die auf Operette spezialisierten Privatbühnen existierten nicht mehr.
Folgen der Kulturbarbarei
Von der Vertreibung vieler Künstler und der „Neudefinierung“ der Kunstform hat sich die Operette nach 1945 nie erholt, obwohl sie im Repertoire vieler Stadttheater eine große Rolle spielte. Doch von Ästhetik und Geist passte sie sich eher dem deutschen Heimatfilm an. Das gilt auch für im „Dritten Reich“ verbotene Werke, die in den 50er und 60er Jahren textlich und musikalisch oft völlig entstellt auf die Bühne kamen oder verfilmt wurden. Gesangsfächer wie Soubrette, Spieltenor oder Spielbass wurden immer weniger unterrichtet. Weit mehr Nachwuchsförderung verzeichnete in Deutschland das Musical, das die Operette mehr und mehr verdrängte, auch an den letzten großen Berliner Operetten-Spielstätten, dem Theater des Westens und dem Metropol-Theater an der Friedrichstraße, das heute wieder Admiralspalast heißt.
Die Pioniere der Wiederentdeckung der authentischen deutschsprachigen Operette kamen aus der Schweiz. Die Geschwister Pfister landeten 1994 mit ihrer Version von „Im weißen Rößl“ in der Bar jeder Vernunft einen Sensationserfolg. Mit ihren prominenten Mistreitern, darunter Max Raabe, Otto Sander, Meret Becker, Gerd Wameling, Monika Hansen und Walter Schmidinger, fegte das Comedy-Trio den Muff hinweg, der seit den Verfilmungen der 50er- und 60er-Jahre über Ralph Benatzkys Singspiel gelegen hatte. „Der deutschen Operette hat ein neuer Tag geklungen“, jubelte „Der Spiegel“.
Spannende Berliner Pläne
Operette mit Anregungen aus der Kleinkunstszene: Darauf setzte 2011 auch Regisseur Philipp Stölzl, als er für Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ an der Staatsoper eine absurd-witze Fassung für kleines Orchester von Christoph Israel und Thomas Pigor wählte. Die Geschwister Pfister wiederum spielen nun in Barrie Koskys Plänen für die Komische Oper eine tragende Rolle. Ab März 2014 wirken sie in Nico Dostals Operette „Clivia“ mit. Bereits im Dezember feiert Star-Entertainerin Gayle Tufts in einer konzertanten Aufführung der „Die Herzogin von Chicago“ von Emmerich Kálmán Premiere. Kálmán, der 1938 nach dem Anschluss Österreichs Wien in Richtung Amerika verlassen musste, ist am 17. August zudem in der Waldbühne präsent. Seine berühmte „Czardasfürstin“ gastiert mit dem Budapester Operettentheater bei den Seefestspielen Berlin. Kaum auferstanden, zeigt sich die Operette bereits wieder in verschiedensten Facetten.