Berlin/Meina. Ein Berliner Verein erinnert an die Ermordung von 57 Juden am Lago Maggiore durch die SS mit einem Austausch von Nachfahren von Opfern und Tätern.

Sein helles Blau fügt sich im Norden traumhaft in die Südalpen ein. Um ihn herum laden im Sommer blühende Gärten zum Verweilen und Uferpromenaden zum Flanieren unter Palmen, Feigen-, Oliven und Zitrusbäumen ein. Wer sich etwas mehr Zeit nimmt, kann im Botanischen Garten der Insel San Pancrazio in die subtropische Pflanzenwelt eintauchen. Und ein Sonnenuntergang über dem Lago Maggiore bietet wohl eines der romantischsten Bilder der auch sonst nicht an malerischen Eindrücken armen Regionen Piemont und Lombardei.

Zweifelsohne gehört das nach dem Gardasee zweitgrößte Binnengewässer Italiens zu den schönsten Orten des Landes. Jährlich kommen abertausende Touristen, um hier den Alltag zu vergessen. Und viele wissen nicht, dass dort vor malerischer Kulisse ein schreckliches Verbrechen begangen wurde. 56 Menschen wurden hier im September 1943 auf teils bestialische Art getötet. Es war das erste Massaker der SS an Juden in Italien.

Nachdem Italiens faschistischer Diktator Benito Mussolini im Juni 1943 gestürzt wurde, während die alliierten Truppen von Sizilien aus nordwärts zogen, schickte die NS-Führung Truppen nach Oberitalien – darunter auch die Panzergrenadier-Division Leibstandarte SS Adolf Hitler. Im August wurde die Eliteeinheit von der Ostfront nach Oberitalien verlegt. Ein Teil der Elitetruppe wurde wenigen Wochen darauf an das Westufer des Lago Maggiore verlegt.

Juden wurden festgenommen, erschossen und ihre Leichen in den See geworfen

Ab dem 13. September 1943 begannen die SS-Soldaten der dritten, vierten und fünften Kompanie des ersten Bataillons der Leibstandarte, Menschen jüdischer Abstammung in den Orten Meina, Arona, Baveno, Mergozzo und weiteren Orten zu verhaften. Identifiziert als Juden wurden sie zuvor anhand von Listen, die die italienischen Behörden angefertigt hatten.

Am 15. September setzten die deutschen Soldaten schließlich 16 Gäste im Grandhotel Meina fest – unter anderem Mitglieder von drei Familien, die zuvor aus dem von Nazis besetzten Griechenland geflohen waren und eigentlich ihren Weg nach Westen fortsetzen wollten.

Sie wurden eine Woche darauf auf Befehl des SS-Hauptsturm- und stellvertretenden Bataillonsführers Hans Röhwer erschossen. Ihre Leichen wurden in den See geworfen. Sechs weitere Menschen starben auf dieselbe Weise, das Schicksal übrigen Jüdinnen und Juden ist unklar. Allerdings ist davon auszugehen, dass auch sie getötet wurden.

Röhwers Großnichte hat Schuldgefühle in „etwas Fruchtbares“ transformiert

Maite Billerbeck ist Großnichte von Hans Röhwer und gründete den Verein zur Förderung der Erinnerungskultur.
Maite Billerbeck ist Großnichte von Hans Röhwer und gründete den Verein zur Förderung der Erinnerungskultur. © Privat

Nach dem Krieg seien Röhwers Verbrechen in der Familie nie thematisiert worden, sagt seine Großnichte Maite Billerbeck. „Es wurde das Narrativ eines ruhigen Menschen gepflegt, der keiner Menschenseele etwas zuleide tun könnte.“ Ein Resultat der Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte sei die Loslösung von Schuldgefühlen und die Transformation in etwas Fruchtbares gewesen.

So hat die 1969 geborene Wahlberlinerin zum 80. Jahrestag des Verbrechens den „Verein zur Förderung der Erinnerungskultur“ mitgegründet. Erklärtes Ziel ist, an die Verbrechen des Holocausts zu erinnern und einen Dialog zwischen den Nachfahren der Opfer und Täter zu ermöglichen.

Unter der Schirmherrschaft des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung Felix Klein will der Verein in dieser Woche mit zwei Veranstaltungen in Berlin den Opfern des Massakers vom Lago Maggiore gedenken – am 6. Oktober in der Rudolf-Steiner-Schule in Dahlem und am 8. Oktober in der Mendelsohn-Remise in Mitte jeweils ab 17 Uhr. Der Eintritt ist frei.

Musik-Komposition entstand eigens für Gedenkveranstaltungen

Dabei wolle man das Geschehen historisch, künstlerisch und psychotherapeutisch aufarbeiten, so Billerbeck weiter. Für ersteres ist der italienische Geschichtswissenschaftler Carlo Gentile eingeladen, der seit Jahren zu den deutschen Kriegsverbrechen in seinem Heimatland forscht.

Der Komponist Andreas Peer Kähler schrieb eigens für die Gedenkveranstaltung das Stück
Der Komponist Andreas Peer Kähler schrieb eigens für die Gedenkveranstaltung das Stück "Lago Maggiore 1943". © Privat

Der künstlerische Teil wird von einer Schulklasse der Steiner-Schule sowie jüdischen Musikerinnen und Musikern gestaltet. Dabei feiert die Komposition „Lago Maggiore 1943“ des Komponisten Andreas Peer Kähler seine Uraufführung – ein Stück in vier Akten für Violine, Cello, Harfe, Percussion und Sprechchor. Dabei wird Schirmherr Klein ab dem zweiten Akt selbst zur Geige greifen.

Der erste Akt verzichtet gänzlich auf eine Melodie. Zum Rhythmus der Schlaginstrumente werden die Schülerinnen und Schüler als Chor die Namen der Opfer aussprechen, wobei für jedes eine Kerze entzündet werden soll. „Ich wollte vermeiden, dass es zu sentimental wird“, sagt Komponist Kähler. „Der Sprechchor hat etwas sehr Nüchternes.“

Leichen wurden kurz darauf am Ufer angespült

Die Morde blieben damals nicht lange unentdeckt. Wenige Tage nach dem Massaker wurden Leichen am Ufer des Sees auf Schweizer Seite angespült. Auf internationalen Druck ordnete der Kommandeur der SS-Panzergrenadier-Division Leibstandarte SS Adolf Hitler eine interne Untersuchung an. Diese wurde nach wenigen Wochen ergebnislos eingestellt und die Truppe wieder an die Ostfront verlegt.

Der SS gelang es dabei nicht, das jüdische Leben rund um den Lago Maggiore komplett auszulöschen. Die aktuelle Forschung geht davon aus, dass mindestens 22 Personen, die auf den Listen standen, überlebten und fliehen konnten. Unter ihnen war auch das Ehepaar Alberto und Becky Behar, denen das Grandhotel in Meina gehörte. Ihre Tochter Rossana Ottolenghi ist Ärztin, lebt in Mailand und nimmt ebenfalls an den Gedenkveranstaltungen in Berlin teil.

Der Lago Maggiore mit seinen Inseln gehört zu den schönsten Orten Oberitaliens.
Der Lago Maggiore mit seinen Inseln gehört zu den schönsten Orten Oberitaliens. © Shutterstock | saiko3p

Die Behars überlebten, weil sie Staatsbürger der Türkei und damit eines im Zweiten Weltkrieg neutralen Staates waren. Auf Drängen des türkischen Konsuls in Italien, der dem Deutschen Reich mit diplomatischen Verwicklungen drohte, ließ die SS das Ehepaar frei. Sie durften in die Schweiz ausreisen, mussten dafür allerdings einen großen Teil ihres Vermögens abtreten. Die historische Forschung geht neben Judenhass von Habgier als weiterem Motiv für die Morde aus. Die SS-Männer eigneten sich den Besitz der meisten ihrer Opfer an.

Röhwer wurde verurteilt und dann wieder freigesprochen

Juristisch zur Rechenschaft gezogen wurde keiner der Täter. Zwar wurden im Oktober 1964 sechs ehemalige Offiziere der Leibstandarte verhaftet und drei von ihnen im Juni 1968 vom Landgericht Osnabrück wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt – unter ihnen auch Röhwer. Der Bundesgerichtshof (BGH) hob die Urteile allerdings im März 1970 wieder auf, da die Taten seit Oktober 1963 als verjährt angesehen wurden.

Die Verjährungsfrist für Mord wurde in der Bundesrepublik erst 1979 aufgehoben. Ab 1969 lag sie bei 30 und davor bei 20 Jahren. Bei nationalsozialistischen Verbrechen galt dabei der Tag der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 als Stichtag, da erst danach eine Verfolgung möglich war.

Im Fall des Massakers vom Lago Maggiore wertete der 5. Strafsenat des BGH die Lage jedoch anders, da die SS bereits im Oktober 1943 interne Ermittlungen führte, sie einstellte und damit die Täter entlastete. Aufzeichnungen dazu fand man nie. Nach Ansicht des BGH konnte somit nicht nachgewiesen werden, dass das Verfahren aus politischen, ideologischen oder rassistischen Gründen beendet wurde.

Röhwer starb 1995 unbescholten im Alter von 80 Jahren

Einen direkten Bezug zu ihrem Großonkel hatte Billerbeck nach eigenen Angaben nie. Hans Röhwer zog 1948 aus seiner Heimat Hamburg weg nach Saarbrücken, wo er 1995 im Alter von 80 Jahren starb. „Es gab relativ wenig Kontakt“, sagt die Großnichte. „Ich habe ihn vielleicht mal auf Familienfeiern gesehen, aber nie richtig kennen gelernt.“

Trotzdem hätten sie die Verbrechen ihres Großonkels mit „stellvertretend empfundenen Schuldgefühlen“ erfüllt. Der psychotherapeutische Aspekt setze sich mit der Frage auseinander, wie damit ein Umgang gefunden werden kann. Dazu soll der Psychiater Peter Pogany-Wnendt, selbst Sohn von Holocaust-Überlebenden, über die transgenerationale Weitergabe von Traumata sprechen. „Es ist zwar unverzeihlich und nicht rückgängig zu machen, aber es es ist geschehen.“ Ziel sei es, die Zeit in „etwas Fruchtbares“ zu transformieren.

In einer Zeit, in der Rassismus und Antisemitismus wieder erstarken würden, gelte es auch mit solchen Veranstaltungen ein Zeichen dagegen zu setzen, so Billerbeck weiter. Daher seien explizit Schülerinnen und Schüler involviert, die aufgrund ihres Alters keinen oder kaum Kontakt zu Zeitzeugen haben oder hatten. „Wir werden versuchen, auch in weiteren Veranstaltungen den Opfern eine Stimme zu geben.“

Lesen Sie auch:

Nach Kriegsverbrechern benannt: Sündenfall Spanische Allee

Gedruckte Wirklichkeit: Wie sich das Leben 1933 veränderte

Historiker Dan Diner zum Jahrestag der Machtergreifung: „Die NSDAP war im Auseinanderfallen begriffen“