Berlin. Marie trägt Vollbart: Regisseur Ersan Mondtag inszeniert Georg Büchners Klassiker als Zeltlager giftiger Männlichkeit.

Üppig wabert aus dem Teich der Nebel empor. Ein blasser, schlaksiger Mann sitzt am Rand auf einem Steg, die Füße im Wasser. Er starrt ins Leere, nur manchmal verirrt sich sein Blick kurz flackernd in Richtung des Publikums, das jetzt im Berliner Ensemble seine Plätze einnimmt. Der Mann sieht erschöpft aus, kaut nervös an seinen strähnigen Haaren, wirkt abwesend.

Noch ist er allein, doch dann fährt der Eiserne Vorhang hinter ihm hoch und gibt den Blick frei auf einen mächtigen, düsteren Tannenwald. Zwischen den gewaltigen Wipfeln leuchtet gespenstisch ein voller Mond. Um eine Lagerfeuerstelle gruppieren sich ein paar einfache Zelte, rechts steht ein hölzerner Hochstand, wie ihn Jäger benutzen. Regisseur Ersan Mondtag, der auch sein eigener Bühnenbildner ist, hat dieses atmosphärisch bestechende Setting entworfen, um dort Georg Büchners „Woyzeck“ zu platzieren. Die Inszenierung ist eine Koproduktion mit dem Scharoun Theater Wolfsburg, wo der Abend vor einer guten Woche erstmals gezeigt wurde, jetzt ist er im Berliner Ensemble angekommen.

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Woyzeck am Berliner Ensemble: Darum geht´s

Woyzeck im tiefen, dunklen Wald also, abgeschottet vom Rest der Welt. Es ist ein seltsames Zeltlager, in dem er da lebt. Deserteure vielleicht oder ein irgendwie militärischer Mini-Trupp, das bleibt offen, auf jeden Fall agiert dieser reine Männer-Bund in klar verteilten Hierarchien und Aufgaben: Der Hauptmann (Martin Rentzsch) kommt als eine Art kontrollierender Oberförster daher, das Gewehr immer griffbereit umgeschnallt, offensichtlich der Chef hier. Der Arzt (Marc Oliver Schulze) ist für die erniedrigenden Experimente zuständig, denen Woyzeck sich unterzieht, um seinen mageren Sold aufzubessern, obwohl die verordnete Erbsen-Diät ihn in einen sich zunehmend verschlechternden körperlichen und mentalen Gesundheitszustand treibt. Und wenn der Doktor seinen Probanden nicht gerade zur Urinprobe nötigt, reißt er dem vom Tambourmajor erlegten Wild die blutigen Eingeweide aus dem aufgeschlitzten Bauch. Jener Tambourmajor ist bei Max Gindorff ein kraftstrotzender Kerl, der aus allen Poren pure Männlichkeit schwitzt. Nach der Jagd fläzt er mit freiem Oberkörper am Teich und bandelt mit Woyzecks schöner Freundin Marie an, wodurch das Ganze auf seinen ebenso dramatischen wie tragischen Höhepunkt zugetrieben wird, bei dem bekanntlich Woyzeck Marie im eifersüchtigen Wahn brutal ermordet.

Toxisches Zeltlager: Marc Oliver Schulze, Gabriel Schneider, Max Kraft, Gerrit Jansen, Jan Landowski, Martin Rentzsch, Max Gindorff und Peter Luppa (v.l.).
Toxisches Zeltlager: Marc Oliver Schulze, Gabriel Schneider, Max Kraft, Gerrit Jansen, Jan Landowski, Martin Rentzsch, Max Gindorff und Peter Luppa (v.l.). © BErliner Ensemble | Birgit Hupfeld

Woyzeck am Berliner Ensemble: Dieses Dilemma versucht der Regisseur zu lösen

Aber wie nun passt Marie in diese archaische, von toxischer Männlichkeit durchtränkte Camper-Truppe, in der als Opfer in Ersan Mondtags Lesart ja von Anfang an bereits Woyzeck selbst etabliert ist? Dieses Dilemma versucht der Regisseur zu lösen, indem er die Figur der Marie zwar erhält (sonst würde das Stück tatsächlich auch wenig Sinn ergeben), aber mit Gerrit Jansen männlich besetzt. Er wird als Marie angesprochen, trägt aber Vollbart und die gleichen Hemden und Hosen wie die anderen Männer, wird also nicht als Frau stilisiert.

Tatsächlich stößt Ersan Mondtags Männerbund-Idee hier an seine Grenzen: Marie bleibt eine Bruchstelle im Konstrukt, Handlung und Inszenierung kommen hier nicht wirklich übereinander, wenngleich die Beweggründe des Regisseurs nachvollziehbar sind: In „Woyzeck“-Inszenierungen wurde der Blick zuletzt häufiger auf das Opfer Marie gerichtet, Stichwort Femizid. Aber genau darauf will Ersan Mondtag ja eben nicht das Augenmerk lenken, sondern aufzeigen, welche Mitverantwortung die Gesellschaft (hier eine brachiale männliche) an der Schuld des Individuums tragen könnte und wie sie es mithin quasi geradezu in die Täterschaft treibt. Damit rückt er zwar einerseits Woyzeck selbst wieder ins Zentrum der Betrachtung, muss aber andererseits aufpassen, die Tat nicht allzu leichtfertig zu rechtfertigen oder zu relativieren. Mondtag hat sich hier dazu entschieden, männliche Gewalt auszustellen, aber eben gerade nicht explizit als Gewalt gegen Frauen zu platzieren, sondern als Gewalt gegen Menschen allgemein.

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Woyzeck selbst ist bei einem sich auf der Bühne verausgabenden Maximilian Diehle von Beginn an ein schwacher, hypersensibler Leidensmann. Die wuchtigen Schläge, mit denen er die Axt in die Holzscheite schlägt, können kaum über sein labiles Naturell hinwegtäuschen. Sein Gang ist immer leicht gekrümmt, er ist der Herumgestoßene, der Erniedrigte, der offensichtliche Außenseiter. Während die anderen ungeniert ihr lustiges Lagerleben leben. Ab und an gesellen sich am lodernden Feuer ein paar Musiker dazu. Tristan Brusch hat einen schönen Soundtrack zu dem Abend komponiert, mit vielen Bläsern und allerlei Liedern, die mal volksliedhaft, mal eher musicalmäßig daherkommen. Ansonsten hört man vor allem die ständig präsenten Tiergeräusche des Waldes und gelegentlich das Knattern eines Hubschraubers. Dann wird schnell das Feuer gelöscht und alle gehen in Deckung. Bis auf Woyzeck. Die Gefahr, die ihn betrifft, kommt nicht aus der Luft. „Jeder Mensch“, so heißt es bei Büchner, „ist ein Abgrund. Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“

Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1, Kartentel. 284 08 155. Nächste Termine: 30.09., 01.10., 14.10.