Der neue Roman des Erfolgsautors ist Nervenkitzel pur, stellt aber gleichzeitig drängende Fragen im Zeitalter des gläsernen Menschen.

Tom Ripley wäre heute nicht mehr möglich. Der Antiheld aus Patricia Highsmiths Romanen kam immer wieder durch, trickste alle aus, gab sich als ein anderer aus oder tauchte unter. Und obwohl er ein Krimineller war, war man auf seiner Seite. Und fieberte, trotz allem, mit ihm.

Frau Highsmith ist im Nachhinein zu beneiden. Damals war es noch einfach, seine Figuren entwischen zu lassen. Aber wir leben in Zeiten der gläsernen Menschen und der fast totalen Information, wo lauter Daten im Internet kursieren, überall Überwachungskameras stehen und jedes Gesicht aus der Masse gefiltert werden kann. Big Brother is watching you: Was in George Orwells „1984“ noch Science-Fiction war, ist heute längst Fakt: Big Data is watching us. Überall und jederzeit.

„Going Zero“: Wer 30 Tage lang unentdeckt bleibt, gewinnt drei Millionen Dollar

An dieser Stelle setzt „Going Zero“ an, der neue Roman des neuseeländischen Autors Anthony McCarten. Zehn Kandidaten haben darin genau zwei Stunden Zeit, um unterzutauchen. Dann werden sie gejagt. Mit allen Mitteln der modernen Überwachung. Wer es schafft, 30 Tage lang nicht erwischt zu werden, auf den warten drei Millionen Dollar. Steuerfrei.

Ein Vermögen für die Kandidaten. Aber Peanuts für den Konzert WorldShare. Denn der steht vor einem Riesendeal mit seinem Projekt Fusion: Erstmals soll ein privater Social-Media-Konzern mit staatlichen Behörden zusammenarbeiten und auf Ressourcen US-amerikanischer Sicherheitsbehörden, Polizei, FBI, CIA und NSA, zurückgreifen können. Dabei geht es um nicht weniger als 30 Milliarden Dollar. Aber bevor der Vertrag unterzeichnet wird, soll ein Betastest beweisen, dass das Projekt auch funktioniert und jeder Gesuchte aufgespürt werden kann.

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Abtauchen und wegflitzen: Wladimir Klitschko in der deutschen Variante des Serienformats „Celebrity Hunted“
Abtauchen und wegflitzen: Wladimir Klitschko in der deutschen Variante des Serienformats „Celebrity Hunted“ © Amazon

Eine Verfolgungsjagd also, die der Leser des Romans aus zwei Perspektiven miterlebt: die des Jägers und die einer Gejagten. Der Jäger, das ist Cy Baxter, der Kopf des Unternehmens, ein Tech-Milliardär, erfolgsverwöhnt, übermächtig, größenwahnsinnig. Dabei hat er eine persönliche und überzeugende Motivation: Seinen Konzern gründete er einst mit seinem besten Freund. Der wurde aber bei einem Amoklauf getötet. Hätte die Polizei über andere Möglichkeiten verfügt, hätte das vielleicht verhindert werden können. Das Fusion-Programm ist für ihn entwickelt. Aber vor allem geht es Baxter um Geld. Und Macht. Und wenn mal was nicht gleich funktioniert oder nach seinem Willen geht, kann er schon cholerisch, ja unberechenbar werden.

Auf der anderen Seite ist da Kaitlyn Day, eine einfache Bibliothekarin aus Boston. Die Kandidaten wurden von der CIA ausgewählt, fünf Sicherheitsexperten und fünf Laien. Kaitlyn ist die Nummer Zehn. Weshalb sie dabei ist, ist Baxter schleierhaft. Sie scheint ihm das Musterbeispiel eines einfältigen Menschen, der ihnen sofort ins Netz gehen wird. Aber da täuscht er sich. Kaitlyn verhält sich nämlich nicht so, wie Leute auf der Flucht sich normalerweise verhalten. Ihre Strategie ist, das Falsche zu tun – aber mit Kalkül.

Ein klassiches Katz- und Maus-Spiel, mit immer neuen überraschenden Wendungen

Und sogleich geht es einem wie bei Frau Highsmith und ihrem Ripley. Man ist sofort auf der Seite des, in diesem Falle: der Gejagten. Und darf das diesmal auch ganz ohne schlechtes Gewissen tun. Denn Kaitlyn ist ja eine Gute, ein David im Kampf gegen Goliath. Und das Duell auch ein Geschlechterkampf, zwischen unterschätzter Frau und toxischem Mann. Kaitlyn jedenfalls ist viel schlauer, als die Auswertung ihrer Daten ahnen lässt. Während ein Kandidat nach dem anderen, so raffiniert sie sich auch anstellen, aufgespürt wird, weiß sie sich ihren Häschern immer wieder zu entziehen.

Lange ist „Going Zero“ ein klassisches Katz- und Mausspiel, nach vertrauter Dramaturgie. Es gibt ja sogar schon internationale Serien-Formate wie „Celebrity Hunted“, wo zehn Promis (in der deutschen Version waren es etwa Wladimir Klitschko, Tom Beck und Stefanie Giesinger) untertauchen und Sicherheitsexperten sie aufspüren müssen. Letztlich die High-Tech-Variante des guten alten Versteckspiels aus unschuldigen Kindertagen.

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Anthony McCarten ist auch als Drehbuchautor erfolgreich. Hier nimmt er nicht beim Britischen Filmpreis BAFTA nicht nur den Preis fürs beste Drehbuch entgegen, er prüft auch gleich, ob die Statue echt ist.
Anthony McCarten ist auch als Drehbuchautor erfolgreich. Hier nimmt er nicht beim Britischen Filmpreis BAFTA nicht nur den Preis fürs beste Drehbuch entgegen, er prüft auch gleich, ob die Statue echt ist. © picture alliance | Jonathan Short

Die Lektüre ist Nervenkitzel pur. Und so spannend, dass man den Roman kaum aus der Hand legen mag. Sind die Kapitel mit ihrem fliegenden Perspektivenwechsel doch kurz und knapp. Liest man halt noch ein Kapitel und noch eins. Und ist dann die halbe Nacht wach.

Immer aber, wenn die Handlung zu vorhersehbar zu werden droht, schlägt McCarten eine überraschende Wende. Da zeigt es sich, dass der Mann nicht nur ein versierter Autor ist von Romanen wie „Superhero“ oder „Funny Girl“, sondern auch ein erfolgreicher Drehbuchautor von Oscar-Kandidaten wie „Die Entdeckung der Unendlichkeit“, „Die dunkelste Stunde“ oder „Bohemian Rhapsody“ .

Zu diesen Volten gehört, dass Cy Baxter entblößt sich nach und nach – guter Vorsatz hin oder her – als Bilderbuchhaifischkapitalist herausstellt. Einer, der eiskalt Mittel einsetzt, die nicht nur seine Untergegeben entsetzen, sondern auch die Behörden, die er doch überzeugen will.

Anthony McCarten: Ground Zero. Diogenes, 464 Seiten, 25 Euro. Cover Ground Zero
Anthony McCarten: Ground Zero. Diogenes, 464 Seiten, 25 Euro. Cover Ground Zero © Diogenes

Wenn es Kaitlyn etwa gelingt, mit einem Boot unterm Radar gen Kanada zu fliehen, schickt er Überwachungsdrohnen hinterher, bis in den kanadischen Hoheitsbereich. Und auch sonst zückt er ein paar höchst illegale Hilfsmittel aus dem Ärmel. Und dann keimt sogar der Verdacht auf, dass er sein Sicherheitsprogramm auch an andere Staaten verkauft. Egal, was die damit vorhaben.

Je mehr er recherchierte, desto wütender wurde er

Aber wie sich zeigt, ist auch Kaitlyn nicht nur unbedarfte Bibliothekarin, auch sie verfolgt eine eigene Agenda. Und irgendwann wird aus dem Spiel blutiger Ernst. Da geht es nicht mehr länger um Geld oder ums Gewinnen. Sondern darum, Regierungen und Überwachungskonzerne, die das Privatleben von Menschen ausspähen, zu entlarven. „Ein Feldzug gegen Big Tech, gegen die viel zu großen Möglichkeiten, Zwang und Einfluss auszuüben, Meinungen zu manipulieren, Falschinformationen zu verbreiten“, wie es einmal heißt.

Bei allem Suspense geht es also auch um Grundsätzliches: um Recht und Unrecht, das Gemeinwohl contra Freiheit des Einzelnen. Und die Frage, ob es sowas wie Privatsphäre überhaupt noch gibt. Das sei „ein Relikt aus dem 20. Jahrhundert“, formuliert es Cy Baxter einmal zynisch: „Die Privatsphäre ist ein Gefängnis. Die Menschen können es gar nicht abwarten, sie loszuwerden. Weil sie danach lechzen, bekannt zu sein, nicht unbekannt.“ Dieses Szenario ist nur leicht überzeichnet. Man denke nur an Peter Thiel, der seine Überwachungs-Software Regierungen in aller Welt anbietet. Und auch Staaten sammeln längst mehr Daten über ihre Bürger, als denen bewusst ist.

McCarten – der in den sozialen Netzwerken nicht aktiv ist und sich selbst als „hundertprozentigen Zero“ bezeichnet – hat viel über das Reizthema Überwachungskapitalismus recherchiert. Und je mehr er sich damit auseinandersetzte, desto größer wurde seine Wut. „Die Liste der positiven Veränderungen, die das Digitalzeitalter uns beschert hat, ist endlos, aber es gibt einen großen und dringlichen Bedarf an neuer Gesetzgebung“, sagt er. „Ganz zu schweigen von den Massen an Fake News, von Identitätsdiebstahl, Hassrede im Netz und dem Schaden, den die sozialen Medien der zerbrechlichen Psyche junger Menschen anfügen.“ Seine Kaitlyn Day soll da ein bisschen Sand ins Getriebe streuen. Und wenn das Buch zu Ende und der vordergründige Thriller ausgelesen ist, setzt das Nachdenken über dieses drängende Thema erst richtig ein.