Berliner Morgenpost und Deutschlandfunk Kultur haben den Friedrich-Luft-Preis verliehen. Wir dokumentieren die Laudatio.
Es sind nicht viele Theateraufführungen pro Saison, deren Kunde sich in Theater-Berlin verbreitet. Vom Hörensagen kennen Theaterprofis wie Bühnenbegeisterte diese Handvoll Inszenierungen. Von Mund zu Mund wird weitergetragen, dass man sie gesehen haben muss. Sie sind ausverkauft, und je weniger Spieldaten es noch gibt, desto größer wird das Begehr, noch einen Blick auf sie zu erhaschen. „Berlau :: Königreich der Geister“ von Raum+Zeit am Berliner Ensemble ist solch eine Inszenierung – sie hat das Publikum in der vergangenen Spielzeit außerordentlich bewegt.
Dass „Berlau :: Königreich der Geister“ ein solch positives Eigenleben entwickelt hat, liegt an ihrer Hauptfigur und dem mit ihr verbundenen Themenkomplex: Wir begegnen hier – wie eben gehört – Ruth Berlau, die in ihrem vielfältigen Leben Schauspielerin und Regisseurin war, Radiomoderatorin, Fotografin und Herausgeberin.
Abenteuerlustig war sie: Am 24. August 1906 in Kopenhagen geboren, fuhr sie als junge Frau mit dem Fahrrad von Kopenhagen nach Paris und erdichtete aufregende Erlebnisse, die sie einer dänischen Zeitung als Journalismus verkaufte.
Ruth Berlau hat am Königlichen Theater in Kopenhagen gespielt und für ihr Arbeitertheater „RT – Revolutionäres Theater“ mit Laien inszeniert. Wohlhabend aufgewachsen und später mit einem HNO-Arzt reich verheiratet, war sie überzeugte Kommunistin, die in den Spanischen Bürgerkrieg reiste. Inwiefern sie eine Salon-Kommunistin war? Nun, sie erscheint auch in ihren autobiografischen Notizen weniger als zuverlässige denn zum Fabulieren neigende Erzählerin.
Freiheitsliebend und eigenständig war Ruth Berlau, auch finanziell unabhängig war sie die meiste Zeit – und doch hat sie Bertolt Brecht zum Zentrum ihres Lebens gemacht, ist ihm und Helene Weigel ins finnische Exil gefolgt und dann in die USA. Dort wohnte sie als „Zweitfrau“ neben der Familie und ging dann, von Brechts leeren Liebesschwüren enttäuscht, von L.A. nach New York City, um beim Office of War Information für das dänische Radio zu arbeiten.
Sie klaute Bertolt Brecht das Manuskript
1933 hatte Ruth Berlau Bertolt Brecht und Helene Weigel kennen gelernt. Sie sollte eine Lesung mit der dänischen Autorin Karin Michaelis organisieren, bei der die Familie Brecht/Weigel untergekommen war. Das Manuskript zu Brechts „Die Mutter“ hat sie ihm bei dieser Gelegenheit „geklaut“, um es zu übersetzen und mit ihrem Arbeitertheater aufzuführen. Brecht half ihr erstaunlicherweise bei der Inszenierung – er war froh, im Exil gespielt zu werden; sie, die in Kopenhagen die Anna in Brechts „Trommeln in der Nacht“ gespielt hatte, fühlte sich offenbar bereits zu ihm hingezogen.
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Mit dieser Inszenierung beginnt eine der Arbeits- und Liebesbeziehungen, wie sie Brecht Zeit seines Lebens parallel zum Familienleben mit Helene Weigel pflegte. In „der Erotik der gemeinsamen Textarbeit“ nahmen diese Beziehungen oft ihren Anfang, schreibt Hildegard Häntzschel in ihrem Buch „Brechts Frauen“. So auch hier.
Ruth Berlau wurde mit der Zeit eine der Frauen in „Brechts Tross“ – aktiven und ehemaligen Geliebten rund um die Kernfamilie Brecht/Weigel. Die Frauen trugen auch nach dem Erkalten von Brechts Gefühlen und unzähligen leeren Versprechen auf ein gemeinsames Leben als Mitarbeiterinnen zu seinem Werk bei – als Lektorin, Sekretärin oder „Aufschreiberin“, wie sich Ruth Berlau selbst bezeichnete.
Wie wichtig der Beitrag von Margarethe Steffin, Elisabeth Hauptmann oder Ruth Berlau zu Brechts Arbeit war, hat die Brecht-Forschung in den vergangenen Jahrzehnten herausgearbeitet. Ruth Berlau etwa hat die Modellbücher mit erfunden, Bücher, die Inszenierungen fotografisch detailreich dokumentieren und so zu Brechts Nachleben wesentlich beigetragen haben. Sie war Mitgründerin des Berliner Ensembles, aber dort bald unerwünscht, auch von Brecht, der neue, jüngere Liebhaberinnen um sich scharte. Nach seinem Tod 1956 erteilte die neue Theaterleiterin Helene Weigel ihrer Nebenbuhlerin Ruth Berlau umgehend Hausverbot.
Ein Parcours im digitalen Paralleluniversum
Aber zurück zu „Berlau :: Königreich der Geister“. Dass die Inszenierung bewegt, liegt auch am Set-up, das Sie ja alle in der Ausstellung schon kennengelernt haben. Als Zuschauer:in ist man auf sich gestellt, bewegt sich alleine durch den Parcours, blind jenseits der VR-Brille, in der man Brecht begegnet, als schmeichelnd drohendem Regisseur des „Kaukasischen Kreidekreises“, eines Stückes, das 1948 in den USA und am 7. Oktober 1954 hier im Theater am Schiffbauerdamm aufgeführt wurde.
Man bewegt sich in einem digitalen Paralleluniversum, bis man die Brille abnehmen darf – und in einem winzigen Raum einer Schauspielerin direkt gegenüber steht. Esther Hausmann, Amelie Willberg und Susanne Wolff sind Ruth Berlau, und sie spielen mit Verve, uns als Zuschauende ebenso umgarnend wie zuvor Brecht uns als seine Schauspieler:innen und Mitarbeiter:innen umgarnt hat.
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„Du Drecksack“ sind die ersten Worte, die ich höre, als ich die VR-Brille abnehme und Susanne Wolff sehe, am Waschbecken ihrer kleinen Zelle sitzend. Was passiert hier?, frage ich mich getroffen. Nach einiger Verwirrung beginne ich mich zu orientieren: begreife, dass ich hier in der Rolle des Bert Brecht einer aufgebrachten, tief verletzten Ruth Berlau gegenüberstehe, 1944 hat sie nach einer Operation den gemeinsamen Sohn verloren. Michel hieß er, wie das Kind im „Kaukasischen Kreidekreis“. An dem Theaterstück haben Brecht und Berlau in New York gearbeitet, 1943/44, als Berlau schwanger wurde. Wie traumatisch der Verlust des Kindes und der Perspektive auf ein gemeinsames Leben gewesen sein muss, mag man sich kaum vorstellen.
Susanne Wolff fordert als Berlau ein Zeichen der Zuneigung
Dieser Ruth Berlau also stehe ich gegenüber. Je länger Susanne Wolff mich direkt angeht, ganz in der Rolle, desto mehr fühle ich mich aufgerufen, zu reagieren. Innerlich nehme ich Stellung, schäme mich ob der schäbigen Reaktion – Brecht bezahlte zwar Michels Urne, aber muss so kühl auf die persönliche Katastrophe reagiert haben, dass er Berlau tief verletzte. Und ich merke, wie ich zugleich beginne, mich stumm zu rechtfertigen. Als Susanne Wolff ein Zeichen meiner, also Brechts Liebe fordert, da versuche ich, als Schauspiel-Laiin ungelenk, ihr wortlos diese Zuneigung zu senden. Um Berlau zu besänftigen? Oder aus echter Liebe?
Die Grauzonen und Ambivalenzen der schwierigen Beziehung von Brecht und einer „seiner“ Frauen werden in „Berlau :: Königreich der Geister“ unmittelbar erlebbar. Ohne dass die Inszenierung denunziatorisch wäre und Brecht nur als #MeToo-Fiesling abstempelte. Wobei sich Alexandra Althoff, Lothar Kittstein und Bernhard Mikeska vom Kollektiv RAUM+ZEIT durchaus positionieren: Allein schon durch ihren Titel steht die Inszenierung auf der Seite von Ruth Berlau: „Berlau“, ohne Vorname oder Artikel. „Berlau“, wie „Brecht“. Mit dem Titel werden Ruth Berlau und Bertolt Brecht auf Augenhöhe gebracht. Ein Akt der nachträglichen Emanzipation und Würdigung.
„Betörend schön und immer wild entschlossen“
Bertolt Brecht wiederum ist in „Berlau :: Königreich der Geister“ nur ein digitales Abbild, ein virtuelles Genie in unserer VR-Brille, dem jegliche Interaktion verwehrt ist. „Ruth“ aber ist kopräsent, zeitgleich mit uns im Raum anwesend. Sie hat die Hoheit über die entscheidende Theaterkonstellation: A spielt für B. Wir begegnen den Spielerinnen live, können mit ihnen in einen gestisch-mimischen Austausch treten. Wie ein Medium stellen die Schauspielerinnen einen Kontakt zu Berlau her, evozieren sie als Person mit den verschiedensten charakterlichen Facetten.
Neben der tief enttäuschten, aufgebrachten Ruth Berlau von Susanne Wolff begegnen wir Zuschauer:innen mit Amelie Willberg der jungen Frau. „Betörend schön und immer zu irgendeiner Sache wild entschlossen“ soll sie gewesen sein, wie Hildegard Häntzschel sie in „Brechts Frauen“ beschreibt.
Amelie Willberg kokettiert, sie flirrt, unbeschwert und verführerisch. So war sie vielleicht, die Mittzwanzigern, die Brecht 1933 kennenlernte. Und dann ist da Esther Hausmann, die eine abgeklärte, selbstgewisse, lebenssatte Ruth Berlau kurz vor ihrem Tod gibt, eine Berlau, die sich selbst schilt – für Leichtgläubigkeit, Eigensinn, den Glauben an den Kommunismus. „Was bleibt von dir? Wer kann sich noch an dich erinnern?“, fragt sie. Und wir Zuschauer:innen wissen, was bleibt und wer sich erinnert.
Als Feier der Kopräsenz überzeugte „Berlau :: Königreich der Geister“ die Friedrich Luft Preis-Jury, für die ich hier stellvertretend sprechen darf. Bemerkenswert erscheint uns „Berlau“ auch als hybride Inszenierung, die VR-Installation und Live-Schauspiel verbindet.
In den Gästebüchern zeigt sich die Begeisterung des Publikums
Nun hat „Berlau :: Königreich der Geister“ im Oeuvre von Raum+Zeit eine Vorläuferin. Mit ganz ähnlichem hybridem Konzept drehte sich „Antigone :: Comeback“ 2018 um Helene Weigel und den kollektiven Entstehungsprozess von Brechts „Antigonemodell“ im Jahr 1948. „Berlau :: Königreich der Geister“ aktualisiert dieses Konzept, mit einer anderen von „Brechts Frauen“.
Und doch ist „Berlau“ als Inszenierung in ihrer Wirkung einzigartig und spezifisch für die Zeit, in der sie uraufgeführt wurde: am 5. Mai 2022, nach zwei Corona-Jahren, in denen das Theater ins digitale Exil gewandert ist und kopräsente Nähe zu etwas sehr Besonderem wurde. Der Nervenkitzel der 1:1-Begegnungen fühlt sich ganz anders an als vor der Pandemie – während der Umgang mit der VR-Brille mittlerweile vielen vertraut ist. In dieser Verschränkung von digitalem Raum und Live-Spiel ist „Berlau :: Königreich der Geister“ eine Art Modellinszenierung für die Corona-Zeit.
Überzeugt hat die Inszenierung auch das Publikum. In mehreren Gästebüchern haben die Zuschauer:innen ihre Reaktionen hinterlassen. Diesen Büchern kommt sicher eine besondere Rolle zu. Im Ablauf der Aufführung, die im Loop-Verfahren über mehrere Stunden hinweg mit jedem neuen Gast immer wieder neu startet, gibt es keinen Applaus für die Schauspieler:innen.

Berührt haben sie ihr Publikum aber auf eine sehr eindringliche Weise, wovon die Gästebücher Zeugnis ablegen. „Intensiv“, „faszinierend“, „verstörend“, „ergreifend“ habe ich in vielen der Einträge gelesen, die ich nach meinem Besuch durchgeblättert habe. „Wie erfrischend, so unmittelbar herausgefordert zu werden“, schreibt jemand. Und eine andere Person gesteht: „Nie in meinem Leben war ich so verunsichert. Nie in meinem Leben musste ich mich bei einem Theaterabend so fallen lassen, mich selbst spielen… vertrauen.“ – „Ich gehe seit ungefähr 60 Jahren regelmäßig ins Theater. So etwas habe ich noch nie gesehen. Großartig“ notiert Solveig. Und Ingrid, die die 1974 verstorbene Ruth Berlau noch persönlich gekannt hat, ist „tief berührt“ – das Gesehene „kam nah an ihr Wesen“, schreibt sie.
Das ist ein wunderbares Kompliment an die Schauspielerinnen, die sich Ruth Berlau als Figur angenähert haben. Und die Rückmeldungen sind ein großes Lob für das Konzept von Raum+Zeit, die den Besucher:innen mit „Berlau :: Königreich der Geister“ ein memorables Theatererlebnis ermöglicht haben.
Nähe, Berührung, Blicke, dem Geschehen ausgesetzt zu sein, sich in einem geschützten Raum auch auszuliefern und zu vertrauen – das ist, was Theater kann. Und was mit „Berlau :: Königreich der Geister“ in exzeptioneller Weise gelungen ist.
Wir gratulieren Alexandra Althoff, Lothar Kittstein und Bernhard Mikeska vom Kollektiv RAUM+ZEIT, den Spieler:innen Esther Hausmann, Amelie Willberg, Susanne Wolff und – im VR – Martin Rentzsch sowie dem Berliner Ensemble zum Friedrich-Luft-Preis 2022.