Berlau. Der Titel ist ein Aufschlag: Berlau. Kein Vorname, kein „die“ vor dem Nachnamen. Berlau. – Ruth Berlau war eine der Frauen um Bertolt Brecht. Liebte ihn, lebte mit ihn, arbeitete für ihn. Sie, die Schauspielerin gewesen war am Königlichen Theater in Kopenhagen, die, kommunistisch gesinnt, ein Arbeitertheater gegründet hatte und als Journalistin finanziell unabhängig war, hing am berühmten Autor und Theatermacher. Als Fotografin dokumentierte Berlau Brechts Arbeiten, erfand die „Modellbücher“, in denen die Proben detailliert aufgezeichnet wurden.
Anfang der 1940er-Jahre folgte sie Brecht und seiner Ehefrau Helene Weigel ins Exil. Da hatte sie, wie andere vor ihr, schon erlebt, wie sie durch die nächste Geliebte ersetzt wurde. Am Berliner Ensemble war Berlau bis zu Brechts Tod angestellt, dann wurde ihr gekündigt am von Weigel geleiteten Theater.
Ein unvorhersehbarer Parcours durch das Theater
Lange stand Berlau im Schatten von Brechts Ruhm. Doch die unverzichtbaren Beiträge von Mitarbeiterinnen wie auch Margarete Steffin oder Elisabeth Hauptmann zu seinem literarischen und theatralen Werk sind wiederentdeckt, und man würdigt sie längst als eigenständige Künstlerinnen. So wie in „Berlau :: Königreich der Geister“, einem digital-theatralen Parcours des Kollektivs „Raum+Zeit“ am Berliner Ensemble.
Dreifach begegne ich Berlau. Eins-zu-eins: nur sie und ich. Sie, sie und sie. Und ich – oder Brecht? Leicht verliert man die Orientierung auf dem Parcours, den „Raum + Zeit“ für je einen Gast erdacht haben. „Berlau“ kombiniert Virtual Reality-Szenen mit Schauspiel im Bühnensetting. Einzeln werden wir im Foyer aufgerufen, bekommen eine VR-Brille aufgesetzt. Nur der stützende Griff der schwarz gekleideten Führerin bewahrt mich vor dem Straucheln.
Der schwarze Engel führt mich scheinbar in den Zuschauerraum des BE, ich nehme Platz auf einem Theatersessel. Und dann taucht Brecht vor mir auf, ein kleiner bebrillter Mann in blauer Arbeiterkluft, ein charismatischer Intellektueller, mit bescheidener Körperhaltung und autoritärem Gestus. Er gibt Anweisungen, lockt und schilt, um als Regisseur die Affekte und Haltungen zu extrahieren, die er für seine Inszenierung wünscht. Ganz das männliche Genie, das auf dem Theater als Idealtypus galt.
Allein auf engstem Raum mit den Schauspielerinnen
In „Berlau“ gaukelt die VR-Brille Unmittelbarkeit vor: als stünde Brecht direkt vor mir. Aber ich weiß: Es ist nur ein Film, wenn auch in 360 Grad. Wie erschütternd, als dann eine echte Stimme erklingt, vor mir im Raum. „Drecksack“, beschimpft sie mich. „Nimm die Brille ab“, fordert sie, genauso lockend und drohend wie der Theaterdiktator, der mir eben auf der Bühne begegnet ist. Als ich dem entspreche, erblicke ich Susanne Wolff, die mich herausfordernd ansieht. Allein sitzt sie am Waschbecken, in einem kargen Raum mit schmalem Bett. Direkt schaut sie mir in die Augen – und klagt mich an.
Ihren Sohn Michel hat sie verloren. Ihr Kind mit Brecht, der sie offenbar allein gelassen hat, aber akribisch aufzeichnet, wie viel er für die Urne ausgibt. Die ganze Geschichte wirft Wolff mir entgegen, in Fragmenten, denn – das begreife ich schrittweise – ich bin Brecht. Ich müsste wissen, was geschehen ist. Offenbar zeige ich zu wenig Reaktion, denn wieder und wieder setzt sie an. Wenige Tage nach der Geburt ist Michel gestorben; sie hat ihn, selbst operiert, nicht einmal in ihren Armen halten dürfen. „Drecksack! Zeig mir, dass Du mich liebst.“ Und da beginnt sich etwas zu regen, der Wunsch, wirklich mit ihr zu interagieren, aus dem anfangs schockhaften Zustand herauszukommen und in Austausch zu treten.
Das Publikum wird zum Teil der Inszenierung
Innerliche Bewegung, der Ausdruck von Haltungen durch Mimik und Gestik – ist das nicht Schauspiel? Zu einem wortlosen Mitspielen fordert „Berlau :: Königreich der Geister“ heraus. Leichter geht das schon bei der zweiten Berlau. Jung und keck ist sie. Amelie Willberg kokettiert, sie flirrt, unbeschwert und verführerisch. So war sie vielleicht, Ruth Berlau, die am 24. August 1906 in Dänemark geborene Schauspielerin, Autorin, Fotografin, als sie 1933 Brecht kennenlernte.
Wie viel dieses Leben um seine Berühmtheit herum sie gekostet haben mag, was ihr die gemeinsame Kreativität aber auch gegeben hat, lässt Esther Hausmann spüren. Am BE bin ich ihr jüngeres Selbst. Müde sieht sie aus, aber dann blitzt eine sprühende Energie auf. „Du bist frech“, sagt sie mit einem Aufleuchten im Gesicht, „unwiderstehlich, schlau und zäh“. Ein Selbstgespräch am Ende eines Lebens – und ein berührendes Stück Theater.
Eine überraschend eindeutige Entscheidung
„Intensiv“, „ergreifend“, „verstörend“ fand „Berlau“ auch das Publikum. Die Notizen im Gästebuch sind der einzige Applaus, den Esther Hausmann, Amelie Willberg und Susanne Wolff erhalten. Um die Atmosphäre zu wahren in der immersiven Installation, die alle Zuschauer:innen am Schluss überblicken dürfen. Ohne VR-Brille. Um zu erkennen, wie nah die Stationen beieinander liegen, an denen wir Brecht auf der Bühne begegnet sind, Susanne Wolffs wütende Trauer und Esther Hausmanns desillusionierte Heiterkeit mitgestaltet haben.
Überzeugt hat dieses Amalgam von digitaler Technik und lebendigem Schauspiel auch die Jury, die „Berlau :: Königreich der Geister“ mit dem Friedrich Luft Preis 2022 auszeichnet. Sehr eindeutig war die Entscheidung diesmal, sicher auch, weil die Theaterinstallation von Regisseur Bernhard Mikeska, Autor Lothar Kittstein und Dramaturgin Alexandra Althoff die digitalen Experimente der Coronazeit mit dem Wunsch nach Nähe, Intimität und echten Menschen verbindet. Herzlichen Glückwunsch an die Spielerinnen, an „Raum+Zeit“ und das Berliner Ensemble!