Es sind Lebensgeschichten, wie es sie nur im schrecklichen 20. Jahrhundert geben konnte. Simcha Applebaum wird 1927 im Malcz im heutigen Belarus geboren. Er ist gerade 14 Jahre alt, als seine Familie im November 1941 ins Gefangenenlager von Bereza Kartuska deportiert wird. Er flieht, schließt sich in den Wäldern jüdisch-sowjetischen Partisanen an und landet schließlich im Ghetto Pyrzcycki, von wo aus die gesamte Familie 1943 nach Birkenau verschleppt wird. Simcha ist heute der einzige Überlebende, weil sein Zug zum Hauptlager verlegt wird. Seine Jugend prädestiniert ihn zur Zwangsarbeit, er mus am Aufbau der Krematorien und des Lagers für Sinti und Roma in Birkenau mitwirken. In den letzten Kriegsmonaten 1945, als die Rote Armee immer näher rückt, ist er bei den Todesmärschen nach Gleiwitz, zum KZ Buchenwald und zum KZ Sachsenhausen dabei.
Die Sprache konnte überlebenswichtig sein
Oder Karol Gydanietz, 1924 im polnischen Tczew zur Welt gekommen. Seine Ausbildung am Gymnasium fand ein jähes Ende, als er im Juni 1940, gerade 15 Jahre alt, durch die Gestapo verhaftet wurde. Im KZ Stutthof bei Danzig wurde er zur Mitarbeit beim Aufbau des Lagers gezwungen. Von dort aus nach Sachsenhausen überstellt, lernte er im sogenannten Jugendblock den Hamburger Lehrer und Sozialisten Frank Bobzien (1906-1941) kennen, der den Kindern und Jugendlichen Deutsch beibrachte und ihnen damit elementare Überlebenshilfe leistete. Gydanietz wurde als Läufer auf der sogenannten Schuhprüfstrecke eingesetzt, wo er täglich stundenlang im Kreis marschieren musste – im Deutschen Reich herrschte kriegswirtschaftsbedingte Knappheit an Leder, es mussten Ersatzmaterialien getestet werden. Auch ihn schickten die Deutschen im Frühjahr 1945 auf den Todesmarsch.
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Es sind Schicksale wie die von Applebaum und Gydanietz, die Martin Gressmann und sein Team in diesem so sehenswerten wie wichtigen Film versammeln. Der Dokumentarfilmregisseur suchte um das Jahr 2000 mit Freunden nach einem Haus im Berliner Umland. Ihm fielen die halbverwitterten Gedenktafeln an den Waldwegen auf, Emaille-Schilder aus DDR-Zeiten. „Todesmarsch April 1945“ stand darauf, „mit rotem KZ-Dreieck, einfacher Karte mit Routenverlauf und einer leicht abstrahierten Reihe von kahl geschorenen Häftlingen.“
Gespenster in Holzpantinen schleppten sich durch die Wälder
Es ging um das Verbergen von Kriegsverbrechen, aber auch um den Erhalt der Arbeitskraft, als die SS-Wachmannschaften gegen Kriegsende zehntausende KZ-Insassen auf die Todesmärsche schickten. Gespenstisch abgemagerte Häftlinge schleppten sich, Holzpantinen an den Füßen, durch die Wälder und Dörfer Brandenburgs. Wer zurückfiel oder nicht mehr konnte, wurde ermordet. Gressmann lässt die Exzesse der Unmenschlichkeit in ruhigen Naturimpressionen aus der Gegenwart widerhallen und mischt sie mit den Stimmen der Überlebenden – auch derjenigen übrigens, die am Rande standen und die Trecks beobachteten. Von manchen der Häftlinge lassen sich noch heute Schnitzzeichen auf den Bäumen wiederfinden. Ein stiller, eindrücklicher, niederschmetternder Film.