1961 ging ins kollektive Gedächtnis ein als das Jahr, in dem die Mauer gebaut wurde. Jeder, der damals in Berlin war, weiß noch genau, was er an jenem 13. August getan hat. Aber trotzdem ist man in diesem Unglücksjahr auch seinem Alltag nachgegangen. Haben sich die West-Berliner geärgert, dass die Schrippe schon wieder teurer wurde und nun acht Pfennige kostete, ärgerten sich die Ost-Berliner wiederum, dass alle bei ihnen kauften, wo ein Brötchen nach wie vor fünf Pfennige kostete, bei einem Umtauschkurs von 1:4.
Es war auch das Jahr, in dem die Welt über Juri Gagarin, den ersten Mann im Weltall, den „Kolumbus unserer Zeit“ jubelte. Und die 11. Filmfestspiele als „Busen-Berlinale“ bezeichnet wurden, weil das Dekolleté von Hollywoodstar Jayne Mansfield mehr Aufsehen erregte als die meisten Filme. Es war das Jahr, in dem der Westen den Twist entdeckte – und der Osten mit dem Lipsi konterte.
Kalter Krieg und warme Schrippen
All das erfährt man in einem RBB-Film über das Jahr 1961, der Alltägliches und Historisches, Banales und Politisches aneinanderreiht, mit Fernseh-Ausschnitten aus jenem Jahr. Flankiert von Zeitzeugen, die im sattfarbigen Sendestudio zurückblicken auf die meist noch in Schwarz-Weiß festgehaltenen Ereignisse. Man habe, sagt etwa der Rentner Alexander Kulpok, der damals für den Sender Freies Berlin (SFB) tätig war, versucht, den Alltag zu leben.
Auch wenn alle damit rechneten, dass sich die Spannungen des Kalten Krieges irgendwann entladen mussten. Als es dann passierte, mitten im Sommer, als viele nicht in der Stadt weilten, da waren die Berliner dennoch schockiert und unvorbereitet. Plötzlich kamen sie nicht mehr zu ihrem Arbeitsplatz oder zu ihrem Liebespartner.
Der Film über das Jahr 1961, der diesen Sonnabend ausgestrahlt wird, ist Auftakt eines ganz außergewöhnlichen und in der deutschen TV-Geschichte bislang einmaligen Unternehmens. „Berlin – Schicksalsjahre einer Stadt“ zeigt 30 abendfüllende, also 90-minütige Filme über die Jahre der Teilung von 1961 bis zur Wiedervereinigung 1990. Jeder Film behandelt dabei ein Jahr und erzählt chronologisch und lakonisch dessen kleine und große Ereignisse.
Andere Sender könnten Vergleichbares gar nicht bieten. Nicht nur, weil sich dort die Zeitgeschichte nicht derart gebündelt abspielte, sondern auch weil die meisten ARD-Anstalten in blinder Sparwut ihr Archivmaterial nach und nach entsorgt haben. Nicht so der RBB, der überdies nicht nur über seine eigene Sammlung aus SFB-Zeiten verfügt, sondern dem zugleich das Erbe des DDR-Fernsehens zugefallen ist. So kann man, was äußerst reizvoll ist, die Trennung von Ost und West fast ausschließlich mit eigenem Material dokumentieren – und von beiden Seiten beleuchten.
Katharina Thalbach fungiert dabei mit ihrer markanten Stimme als Erzählerin. Und sorgsam ausgewählte Zeitzeugen, teils prominente, teils ganz unbekannte, lockern den Rückblick auf, indem sie die Ereignisse aus ihrer Sicht schildern. Eine Ausnahme-Chronik: 30 Filme, in drei Staffeln eingeteilt, hüben und drüben im ständigen Gegenschnitt. Alle Filme werden über einen langen Zeitraum jeweils zur prominensten Sendezeit, immer sonnabends um 20.15 Uhr gezeigt. Der vorletzte Teil über das Jahr 1989 wird zum 30. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November 2019 ausgestrahlt, eine Woche später folgt der Film über 1990.
So entsteht ein faszinierendes Panorama, bei dem auch jeder eingefleischte Berliner, der das alles miterlebt hat, oft staunen wird. Weil er manches vergessen haben dürfte und den Alltag im jeweils anderen Stadtteil eben nicht erleben konnte. Für alle Nachgeborenen ist das eine wie das andere eine faszinierende, höchst anschauliche Geschichtsstunde. Immer wieder verblüffend dabei sind die Stadtansichten jener Zeit. Wenn, wie im ersten Film, der Kudamm noch ziemlich autoleer ist und die Philharmonie gerade erst Richtfest feiert.
Der RBB denkt schon über eine Fortsetzung nach
Der Eröffnungsfilm der Reihe dürfte dabei der stärkste sein, weil sich hier die meisten Emotionen entluden. Man sieht das völlig überfüllte Notaufnahmelager in Marienfelde und wie der – aus dem Westen beschaffte – Stacheldraht entsorgt wird. Man sieht den berühmten Sprung des NVA-Soldaten Conrad Schumann über die Absperrung. Außerdem gelungene, aber auch gescheiterte Fluchtversuche. Und man hört Zeitzeugen, die schildern, wie sie aus Häusern, die an der Grenze standen und noch nicht zugemauert waren, aus schwindelnder Höhe in das andere Deutschland sprangen. Das lässt auch 57 Jahre danach keinen unberührt.
Man sieht, wie der SFB die Soldaten, die die Mauer bauen müssen, mit einem „Studio am Stacheldraht“ beschallen. Und wie der Osten mit ähnlichen Maßnahmen kontert. Man sieht, wie der Regierende Bürgermeister Willy Brandt sich ärgert, weil erst kein hochrangiger Politiker aus Bonn der Stadt beisteht. Und erlebt denselben Willy Brandt, wie er die Weihnachtsansprache in bitterer Kälte hält – vor der Mauer.
Ob die späteren Filme dieser Reihe, in denen die Teilung allmählich zum Alltag wird, auch noch so ergreifend ausfallen werden wie dieser phänomenale Auftakt, bleibt abzuwarten. In jedem Fall aber sind die „Schicksalsjahre einer Stadt“ eine ganz einmalige Chronik, die mutig konzipiert und von Anfang an groß gedacht wurde. Vielleicht sogar noch größer: Beim RBB diskutiert man bereits darüber, ob man die Reihe nach der Wiedervereinigung nicht weiterführen sollte. Schicksalsjahre wären das jedenfalls auch.
RBB, Sonnabend (3. November), 20.15 Uhr