Berlin-Mitte

Was aus dem Deutschen Historischen Museum werden soll

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Susanne Leinemann
Viele Objekte in historischen Ausstellungen sind Alltagsgegenstände. Wie damit umgehen, fragt sich Direktor Raphael Gross

Viele Objekte in historischen Ausstellungen sind Alltagsgegenstände. Wie damit umgehen, fragt sich Direktor Raphael Gross

Foto: Jörg Krauthöfer

Wie geht es weiter im Deutschen Historischen Museum? Der neue Direktor Raphael Gross spricht über seine Pläne.

Berlin. Wer nach Mitte in die Gegend der Museumsinsel kommt, der sieht eine Menge Baustellen. Es tut sich was unmittelbar vor dem Deutschen Historischen Museum (DHM). Und auch im DHM. Rund 100 Tage ist der neue Direktor Raphael Gross jetzt im Amt, nun redet er zum ersten Mal konkret über Pläne und Ausrichtung für die nächsten Jahre. Und weil er die große Bühne eher scheut, die Pressekonferenz, lädt er zu Einzelgesprächen in sein Büro, um Ausblick zu geben.

Klar ist: Es wird wieder spannend im DHM. Denn Raphael Gross will das Haus – mit seiner riesigen Sammlung von fast einer Million historischer Objekte, mit seiner Dauerausstellung und seinen Wechselausstellungen – wieder prägen, nicht nur verwalten. Das Haus soll um einen Grundgedanken kreisen: „Es gibt so etwas wie eine historische Urteilskraft. Und die soll im Zentrum stehen“, sagt er.

Urteilskraft, dieser Begriff leitet sich von der Denkerin Hannah Arendt ab. Bei ihr war es die „politische Urteilskraft“, die im Zentrum stand. Arendt, die deutsche Jüdin oder jüdische Deutsche, die 1933 emigrieren musste und später in den USA politische Theorie lehrte, war lebenslang tief erschüttert über den Holocaust und fragte sich, wie dieser fast widerstandslos möglich geworden war. Ein Pro­blem sah sie in der Weltferne der europäischen Juden.

Dadurch, dass sie sich über Jahrhunderte quasi unsichtbar machen, sich assimilieren mussten, um Anerkennung zu erringen, verloren sie ihre Urteilskraft. Aber nur wer urteile, könne politisch handeln, so ihre Position. „Ich beginne alles, indem ich sage: A und B sind nicht dasselbe“, erklärte sie einmal in einem Interview. Trifft man dagegen eine Entscheidung, „verortet“ man sich, wie nun Raphael Gross sagt. Man wird deutlich, ja sichtbar.

Die Welt ist ein großes Durcheinander

Verorten, darum geht es ihm im DHM, gerade in der heutigen so unübersichtlichen Zeit. Die Welt verändert sich dramatisch – wer nach 1989 glaubte, die Geschichte sei zu Ende, die Mauer gefallen, die Demokratie habe gesiegt, der sah sich spätestens mit dem 11. September 2001 in diesem Glauben erschüttert. Religion spielt heute eine riesige Rolle, Populismus, Globalisierung. Ein großes Durcheinander.

Und weil die Geschichte eben nicht zu Ende ist, müssen wir unsere Urteilskraft an vergangenen Zeiten schulen. Die Idee ist interessant, ja vielversprechend. Kein Wunder, dass die erste Wechselausstellung, die Gross’ Handschrift tragen wird, um „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ gehen soll. Der Clou – aus der großen Sammlung des DHM bestückt und dokumentiert man Arendts Gedankenkosmos.

„Sie hat über Totalitarismus, über die Lage der Flüchtlinge, über Feminismus, über die Rassenunruhen in Little Rock, über die Adenauer-Ära, über Eichmann, über den Auschwitz-Prozess, über die Studentenbewegung, über die atomare Bedrohung geschrieben – alles. Und sie hat überall harte, scharfe, interessante Urteile gefällt, ob man die nun gut oder falsch findet. Aber es sind immer historische Urteile.“ Manches davon ist überholt, anderes hochaktuell und ex­trem anregend. Strittige Meinungen werden stehen gelassen. „Und auch nichts zugedeckt“, betont Gross. Der Besucher ist ein mündiger Bürger. Er wird Verwirrung aushalten müssen.

Ausstellungen zu Medien und Documenta

Die zweite wichtige Wechselausstellung wird sich um das Thema Medien drehen. „Was ermöglicht eine neue Form von Politik und politischer Öffentlichkeit?“, fragt sich Gross. Sprich, wie veränderten Buchdruck, Radio, Fernsehen und nun das Internet politische Debatten? Und welche historischen Ereignisse wurden erst möglich, weil es diese Medien gab? Die Objekte in dieser Ausstellung seien eben nicht nur, findet Gross, „wie vielleicht der Hut von Napoleon Überbleibsel, sondern Agenten der Geschichte“.

Eine dritte Ausstellung soll die Geschichte der Documenta erzählen, die alle fünf Jahre in Kassel stattfindet – und die ja immer eine künstlerische Reaktion auf aktuelle Themen der Zeit ist. Kunst im historischen Museum? Ja, meint Gross. „Wir brauchen auch Kunst aus meiner Sicht.“ Gerade für die Dauerausstellungen. Denn die Alltagsgegenstände, die in den Vitrinen historischer Ausstellungen lägen, seien oft sperrig und nicht für den öffentlichen Blick gedacht. „Es ist eben keine Mona Lisa, kein Chagall.“

Eine neue Dauerausstellung braucht Zeit

Apropos Dauerausstellung. Es wird eine neue kommen, das war schon klar. An der jetzigen gibt es viel Kritik. Aber wann? Fünf Jahre werde es mindestens noch dauern, sagt Gross, denn vorher muss das Zeughaus renoviert werden. Noch wichtiger: Erst muss man eine Handschrift finden. Wie will das DHM erzählen? Und was, mit welchen Objekten? Der neue Hausherr nimmt sich die Zeit, die es dafür braucht. Bei allem. „Es ist nicht mein Ziel, dass man einfach ein bisschen Kosmetik drauf tut, damit man schnell, schnell oberflächlich das Gefühl hat, der Neue ist da.“

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