Literatur

Wenn Viagra den Blick trübt: Der neue Irving enttäuscht

| Lesedauer: 7 Minuten
Peter Zander
Er ist gerade 74 geworden, bringt aber immer noch im Drei-Vier-Jahresrythmus ein neues Buch heraus: Schriftsteller John Irving

Er ist gerade 74 geworden, bringt aber immer noch im Drei-Vier-Jahresrythmus ein neues Buch heraus: Schriftsteller John Irving

Foto: imago/ZUMA Press

„Straße der Wunder“, John Irvings neuer Roman, hat alles, was ein Irving braucht. Und doch krankt er wie seine Hauptfigur an einem Schleppfuß.

An allem sind die Pillen schuld. Juan Diego, die Hauptfigur in John Irvings neuem, dickleibigem Werk „Die Straße der Wunder“, ist mit nur 54 Jahren stark herzinfarktgefährdet und muss deshalb Betablocker einnehmen. Weil ihn das komplett reduziert, hat ihm die Ärztin auch Viagra verschrieben.

So nimmt er Uppers und Downers gleichzeitig, nicht immer im empfohlenen Verhältnis. Zuweilen weiß er gar nicht, ob und wie viele Pillen er geschluckt hat. Oder lässt andere seine Dosis einteilen. Ein gefährlicher Mix, der ihn immer wieder in Tagträume entrückt. Vielleicht sollte man den ganzen Roman einfach als Drogentrip interpretieren: Immer wenn er Pillen nahm.

Heftiger Sex mit Mutter und Tochter

Dieser Juan Diego ist, wie so ziemlich jede Hauptfigur in einem Irving-Buch, ein Schriftsteller – es gibt wohl keinen anderen Autor, der so exzessiv das eigene Metier bemüht. Dabei ist Juan Diego durchaus so etwas wie ein Alter Ego, die Topoi und Milieus kennen wir aus Irvings Romanen. Wir begleiten ihn, was auch für Irving zum Alltag gehört, auf eine Lesereise. Immerhin nach Asien. Von Land zu Land, von Hotel zu Hotel.

Das ist nicht unbedingt spannend und bekommt nur einen Kick, weil ihm dabei immer wieder ein seltsames Mutter-Tochter-Paar begegnet, wobei er mal mit der einen, mal mit der anderen Sex hat, und zwar für ihn ungewohnt heftigen Sex. Auch wenn die beiden dann ziemlich mirakulös immer wieder verschwinden und weder in Spiegeln noch auf Fotos zu sehen sind. Aber eigentlich tagträumt sich Juan Diego halbbetäubt in eine andere Welt und Zeit, die viel spannender ist. Erinnerungen an seine Jugend, an deren Narben er noch heute leidet.

Gedanken lesen in fremder Zunge

Stets sind Irvings Romanfiguren schräge Vögel und krasse Außenseiter, Underdogs und seelisch oder körperlich (oder beides) Angeschlagene. Juan Diego ist so einer. Der zapotekische Mischling wächst als Müllkippenkind im mexikanischen Oaxaca auf, in infernalischen Höllenfeuern, in denen die Überreste der Zivilisation verbrannt werden. Er rettet Bücher vor den Flammen und bringt sich so das Lesen selber bei. Das ist schon das erste Wunder auf dieser langen Straße.

Er wird aber auch von einem Müllkippenlaster überrollt, weshalb er zeit seines Lebens wie der Teufel einen Klumpfuß haben wird. Seine ein Jahr jüngere Schwester Lupe ist anderweitig gestraft: Sie drückt sich in einer Sprache aus, die nur ihr Bruder versteht und die er immer wieder übersetzen muss. Sie hat die Gabe, Gedanken zu lesen und in die Zukunft zu sehen, was ihr Bruder indes nicht immer weiterträgt.

Vom Waisenshaus ins Zirkuszelt

Die beiden sind Halbwaisen, die Mutter eine Prostituierte, die in ihrem Nebenjob, jawohl, die Kirche putzt. Und einen bizarren Tod stirbt, just als sie eine Jungfrau Maria abstaubt. Bizarre Tode: Auch das ist eine Spezialität von Irving, auch ihr wird wieder leidlich gefrönt. Ein paar Fratres wollen die Kinder von ihrem Armenlos befreien, was sie erst mal in ein Waisenhaus führt und dann in einen Zirkus.

Nicht sehr logisch aus pädagogischer Sicht. Aber doch, wenn man den Irvingschen Kosmos kennt. Unter der Zirkuskuppel soll ausgerechnet der Gehbehinderte zum Luftakrobat werden, die Schwester aber die Gedanken der Löwen lesen. Am Ende, das kann nicht nur Lupe, das kann auch der Leser voraussehen, kommt natürlich alles anders. Wobei eine transsexuelle Prostituierte und ein flagellierender Jesuit wichtige Rollen spielen.

Absurde Figuren in noch absurderen Situationen

Vor einem Monat ist John Irving, der Autor von Werken wie „Garp und wie er die Welt sah“ oder „Gottes Werk und Teufels Beitrag“, 74 Jahre geworden. Doch von Alter keine Spur, immer noch bringt er in einem steten Abstand von drei, vier Jahren ein neues und niemals schmales Werk heraus.

Es scheint, als ob die Zeitspanne zwischen zwei Büchern im Alter eeher noch kürzer wird. Das Schreiben als Jungbrunnen. Und gewohnt lässig entwirft Irving wieder absurde Figuren, die er in noch absurdere Situationen wirft.

Eine Fleisch gewordene Antithese

Und doch hat sein jüngster Roman, wie seine Titelfigur, einen argen Schleppfuß. Irving muss sich nämlich abarbeiten. Und zwar gleich an zwei Themen. Zum einen beinhaltet „Straße der Wunder“, der Titel lässt es bereits vermuten, eine herbe Kirchenkritik, am Katholizismus im allgemeinen und ihre verfehlte Verhütungs- und Aidspolitik im besonderen.

Zum anderen geht es um Eingemachtes, um die autobiograhpische oder auch Memoiren-Literatur. Etwas, was auch Irving gern unterstellt wird, wogegen er sich aber vehement ausspricht. Hier in Form von Streitgesprächen Juan Diegos mit seinem Kollegen Clark French, der einst bei ihm in die Schreibschule ging, dann aber eine ganz andere Richtung einschlug.

Schablonenhafte Struktur

Der arme French kann einem fast leid tun, er muss nämlich in beiden Fällen die Gegenmeinung vertreten, ist eigentlich gar keine Figur, sondern ein Konstrukt, Fleisch gewordene Antithese. Das macht ihn arg papieren.

Überhaupt fällt in diesem Werk eine deutliche Konstruiertheit auf. Es ist alles da, was die Irvingsche Fabulierkunst ausmacht, aber die Mischung stimmt nicht mehr. Und alles kommt sehr schablonenhaft immer in Zweiheiten daher. Brüderlein und Schwesterlein, das reale oder übernatürliche Mutter-Tochter-Paar, die zwei Ersatzväter, der Autor und sein Zögling, Betablocker und Viagra.

Irving und wie er die Welt sieht

Selbst die Jungfrau Maria bekommt mit der Nationheiligen von Mexiko, Unserer Liebe Frau von Guadelupe, eine Gegenfigur. Und dann sind dann noch die zwei Zeitebenen, zwischen denen der Roman hin- und herswitcht. Oder besser mäandert.

Früher hat es Irving geschafft, gesellschaftspolitische Anliegen mit lustvoll überschäumender Fabulierkunst und groteskem Humor in erdige Plots zu gießen, die einen süchtig machten. Diesmal ist es eher andersherum, dass die Handlung nur noch als Vorwand zum Abarbeiten dieser Ansichten dient: Irving und wie er die Welt sieht.

Enttäuschend für den Irving-Fan

Dabei werden um die Thesen herum. Und eher unbeholfen in einzelne Plot-Tupfer gestrickt sind, die mal mehr, mal weniger begeistern, sich sogar wiederholen und redundant wirken.

Eine Tendenz, die in den letzten Werken stetig zunimmt. Wer die großen Werke von Irving kennt und liebt, wird deshalb recht enttäuscht sein. Und traurig. Weil ihm klar wird, dass hier vielleicht nicht nur die Autorenfigur im Buch an ein Ende kommt. Irvings jüngstes Werk jedenfalls wirkt zuweilen selbst wie ein Betablocker.