Wenn sie die Nummer nicht kennt, geht Bénédicte Savoy eigentlich nie an ihr Handy. So lehnt sie auch jenen Anrufer gleich mehrere Male ab, der ihr den Gewinn des Leibniz-Preises übermitteln wollte. 2,5 Millionen Euro beträgt das Preisgeld – höher als der Nobelpreis. Erst als sie eine Email erhält, weiß sie, den nächsten Anruf sollte sie besser annehmen. „Ich war überrascht“, sagt sie. Die gebürtige Pariserin hatte vergessen, dass ihre Hochschule, die Technische Universität, sie als mehrfach ausgezeichnete Kunsthistorikerin vor einem Jahr nominiert hatte.
Sie könnte glatt als Studentin im 14 Semester durchgehen
„Kommen Sie“, begrüßt sie uns lässig, „gucken Sie sich unsere Werkstatt an. Das ist wie eine WG“. Tatsächlich wirkte der lichte Raum im Erdgeschoss des Instituts für Kunstwissenschaft und historische Urbanistik am Ernst-Reuter-Platz für universitäre Verhältnisse gemütlich, Kaffeetassen stehen herum, am Waschbecken hängen Kopien von Babyfotos. In einer Ecke sitzen Doktoranden und wissenschaftliche Mitarbeiter und essen gerade Kuchen. Zwei junge Akademiker arbeiten nebenan am Computer.
„Gute Atmosphäre ist wichtig zum Arbeiten“, findet Savoy. Sie sitzt nicht gern allein im Elfenbeinturm der Forschung, sondern entwickelt gerne Ideen im Team ihrer Studierenden. „Das gehört zusammen“, findet sie. Wie sie da so locker sitzt, Jeans, T-Shirt und blauweißgestreiftes Sakko, könnte sie glatt als Studentin im 14,5 Semester durchgehen. Und egal, ob sie an diesem späten Mittag über Napoleons Kunstraubzug in Deutschland spricht – das Thema ihrer Doktorarbeit – oder Nofretete, eine „deutsch-französische Affaire“ oder ihre Ausstellung über die Humboldt-Brüder – sie erklärt komplexe Sachverhalte lebendig, stellt schlaue Zusammenhänge her – und das mit ansteckender Begeisterung.
Das hat die Jury mit dem Leibniz-Preis auch honoriert, vor allem aber ihren „Brückenschlag zwischen der deutschen und französischen Kunstgeschichte“. Die Auszeichnung bekommt sie als eine der „innovativsten Kunsthistorikerinnen gleich zwei Länder“.
In den schmalen Regalen ihres spartanischen Büros („ein Teilbau von Scharoun“) stapeln sich Bücher wie „Die Nationalgalerie in Berlin“, „Waterloo. Napoleons letzte Schlacht“, „Wie China nach Europa kam“ von Timothy Brook. Auf dem Tisch eine Examensarbeit, wohl zwei Daumen stark, vom Umfang ein „Unfall“.
Die allerletzte Magisterarbeit, die sie noch abnimmt aus dem alten System, das abgelöst wird durch die Abschlüsse Bachelor und Master, die weniger umfangreich sind. Das Gutachten muss sie noch schnell fertig machen. „Ich lese das, natürlich, ein paar Stunden, das ist mir wichtig, die Studenten investieren viel Energie und Lebenszeit.“
Zwei Jahre, also vier Semester, ist sie derzeit von der Lehre freigestellt, sie gibt also keine Seminare. Freiraum für ihr neues Buch „Paris Hauptstadt der deutschen Romantik“, gefördert mit dem „Opus Magnum“ von der Volkswagenstiftung. Die Idee dahinter sei, erzählt sie, dass die deutsche Romantik, die später im 19. Jahrhundert als besonders deutsch und etwas sehr Nationales stilisiert wurde, sich auch und vielleicht ganz besonders ausserhalb Deutschlands formiert hat, in den Pariser Museen und Bibliotheken etwa. Und so ist sie viel in Paris, in Berlin aber kann sie konzentrierter arbeiten.
Was genau wird sie mit den 2,5 Millionen Euro des Leibniz-Preises machen? Naturwissenschaftler stocken damit gewöhnlich ihr Equipment auf. „Muss ich mir noch ausdenken, es gibt keine Vorgaben! Es ist Forschung zur Freiheit“, meint Savoy.
Erst einmal möchte sie das Geld in ihr Team investieren, etwa 20 Doktoranden, Post-Doktoranden, wissenschaftliche Mitarbeiter, Stipendiaten, sie arbeiten an ähnlichen Themen wie sie. „Es betrübt mich, viele haben – wie an deutschen Universitäten allgemein – sehr kurzfristige Stellen. Sie können ihr Leben nicht planen.“ Mit dem Preis hat sie nun die Möglichkeit, bessere Verträge zu finanzieren. „Das ist“, findet sie, „extrem wichtig, weil nur durch Stabilität auch gute Ideen kommen“. In Frankreich sei es umgedreht, da gäbe es an den Universitäten zwar weniger Geld, dafür hätten die jungen Menschen mehr berufliche Sicherheit.
Seit seit 2003 ist sie im Berliner Hochschulbetrieb, erst als Juniorprofessorin an der TU, seit 2009 hat sie eine Vollstelle. Ihre Töchter, 10 und 12 Jahre, gehen in Berlin zur Schule. In den letzten Jahren gab es viele Veränderungen durch die europäischen Reformen. Es sei eine viel bürokratisiertere Studienzeit entstanden, mit viel komplizierteren Benotungsabläufen und- Bewertungen, viel kontrollierter für Studierenden und ihre Professoren. Aber in ihrem Fach an der TU hat man es geschafft, eine „größtmögliche intellektueller Freiheit“ zu bewahren. Das sei ein großer Vorzug dieser Universität. „Hier ist ziemlich viel möglich.“
Sie lebt mit ihrer Familie in Wilmersdorf
Berlin kennt sie seit den 80er-Jahren. Als Austauschschülerin kam sie im Jahr 1988/89 in eine Gastfamilie. „Scharf war ich damals nicht drauf“, erzählt sie. Das Schuljahr vor dem Mauerfall wurde für die 16-Jährige eine unglaublich spannende Zeit.
Die Initialzündung für ihre Deutsch-Leidenschaft. Später studierte sie Deutsch in Frankreich. Über ihre Promotion „Napoleons Kunstraub in Deutschland“ kam sie zum Thema Beutekunst, wo es um Fragen des Umgangs mit Kunstwerken in Kriegszeiten geht, „dafür ist Deutschland ein gutes Terrain. Weil es in Deutschland in Kriegszeiten sowohl Täter als auch Opfer von solchen Beutezügen gibt“. Die Archive sind reich, so hat sich ihre Forschung entwickelt.
Versteht sich von selbst, dass der Fall Gurlitt sie beschäftigt. 2013 wurde bekannt, dass in der Wohnung des Münchner Kunstsammlers 1280 wertvolle Kunstwerke beschlagnahmt wurden – dringender Verdacht auf Raubkunst. Savoy erstaunte das weniger. „Der Fall machte Probleme und Verhältnisse deutlich, die im Fach bekannt waren.
Interessant, wie die Öffentlichkeit plötzlich ein Bewusstsein bekommen hat, was Kunsthistoriker eigentlich machen und wie komplex Provenienzforschung ist. Wichtig ist auch“, sagt sie, „dass die ganze Welt sieht, dass Deutschland sehr bemüht ist, die dunkle Vergangenheit aufzuklären.“
Nach ihrem Paris-Romantik-Buch möchte sie am Thema Kunstraub und Beutekunst weiterarbeiten. Diesmal wird sie sich mit der Perspektive der Opfer befassen. Das Problem sind allerdings die Quellen. In der Forschung kämen die meisten Dokumente von den Siegern, also denen, die sich Objekte angeeignet haben. „Bei Nofretete weiß man ungefähr, was die Berliner gesagt, haben, aber kaum, was die Ägypter gesagt haben,“ meint sie. Auf jeden Fall wird das wieder eine Teamarbeit. Sie braucht Muttersprachler, die Recherche ist in Afrika, Griechenland, Indien, Südamerika, Asien geplant.
Was hat eine Frau wie sie wohl auf dem Nachttisch liegen? Grade liest sie den „ganz wunderbaren“ Roman „Boussole“ von Mathias Enard, der kürzlich mit dem Prix Goncourt, dem größten literarischen Preis Frankreichs, ausgezeichnet wurde. Da geht es um einen Musikwissenschaftler von heute, der auf arabische Musik spezialisiert ist und darüber nachdenkt, was in den Welterbestätten im syrischen Palmyra passiert. Also doch irgendwie wieder Kunstgeschichte. „Ach, ich mache auch ganz andere Sachen. Meine Familie holt mich zurück in den Alltag. Das ist wichtig.“ Sie muss jetzt los. Zu einer Dissertationsverteidigung in Paris.