Im uferlosen Schaffen Lemmy Kilmisters gibt es auch Bücher. Eines, „Lemmy Talking“, ist die Sammlung seiner Aperçus. „Ich könnte Marcel Proust vertonen, die Feuilletonisten würden mich trotzdem hassen“, freute er sich noch 2003.
Acht Jahre später ist das Feuilleton seine natürliche Umgebung. Seine Rockband Motörhead steht in der Mitte der Kulturlandschaft wie ein bemooster Fels. The Head Cat, Lemmys Arbeitskreis zur Pflege ursprünglicher Rockmusik, war für den winzigen Columbiaclub gebucht. Aufgrund des Ansturms blickt der 65-Jährige im ausverkauften Huxley’s nun herab auf 1600 Besucher. Es geht nicht um das Programm, es geht um Lemmy.
Wenn er jährlich zum Advent mit Motörhead vorbeischaut, ruft er zur Begrüßung: „We are Motörhead and we play rock’n’roll!“ An diesem Abend gurgelt er: „We are The Head Cat and we play a little rock’n’roll for you.“ Das sind die Feinheiten im Werk von Lemmy Kilmister, und alle wissen das zu schätzen. Biertrinker mit Backenbärten ebenso wie Gäste seines Alters mit Wetterjacken in fröhlichen Farben. Männer, die sich ihre Militariasammlung an die Lederwesten hängen, stehen friedlich neben frisch tätowierten Erstsemestern.
„American Beat“ singt Lemmy von der Bühne zwischen seinem Schlagzeuger und seinem Gitarristen. Eine selbst verfasste Hymne auf die Lieder seiner frühen Jugend. Nachdem er einen beherzten Schluck getrunken hat, stimmt er „Not Fade Away“ von Buddy Holly an. Dann spricht er über 1945, England und den Heiligabend, an dem er zur Welt kam, im kaputten Königreich.
Dass Motörhead und Lemmy mit dem engeren Heavy Metal, mit den Strumpfhosen, den Föhnfrisuren und den Virtuosen, nichts zu schaffen haben möchten, hat er nie verschwiegen. Wenn er Rock’n’Roll sagte, bei Motörhead, meinte er immer Rock’n’Roll. Auch sein nostalgisches Gemüt hat Lemmy nie verhehlt. Als er vom 20. Jahrhundert Abschied nehmen musste, lud er Slim Jim Phantom von den Stray Cats und Danny B. Harvey von den Rockats ein, zwei Retro-Rockabilly-Veteranen aus den Achtzigern.
Gelegentlich treten sie seither als The Head Cat auf und spielen Platten ein mit Klassikern von Elvis Presley, Jerry Lee Lewis und Carl Perkins. Anfangs spielte Lemmy die Gitarre, heute schlägt er wieder seinen Bass wie eine sperrige, monströse, uneinsichtige Gitarre: Röck’n’Röll.
Und er bemüht sich auch nicht um den reizenden Gesang der Vorbilder, um ihre Hundeblicke oder Hüftschwünge. Flankiert von Slim Jim Phantom, der im Stehen trommelt, und Danny B. Harvey mit seiner versilberten Gitarre, brüllt sich Lemmy breitbeinig durch Lieder, die in den Revivalzyklen schwer gelitten haben. Man kann Buddy Holly wieder hören ohne Schluckauf und die Heiterkeit von tanzenden Brillenträgern auf Theaterbühnen.
Johnny Cashs „Big River“ hört sich wieder an nach einem schlammigen Fluss. „Bad Boy“ klingt nach der ungehaltenen Fassung von den Beatles und nach Motörhead. Vor „Susie Q“ verschwinden alle warmgetönten Bilder von den Fünfzigern, vom Wirtschaftswunder und von fliegenden Unterröcken, und zum Vorschein kommt ein Sänger, der verzweifelt gegen eine menschenfeindliche Moral ansingt. Der ewige Lemmy.
Schwer zu glauben aber wahr: Es ist nicht lange her, dass er als Primitiver galt und nicht als edler Wilder oder heiliger Trinker. Bevor Jürgen Teller seinen Sohn im schwarzen Strampler mit der Aufschrift „Motörhead“ fotografierte und in Galerien hängte, war die bürgerliche Welt noch unberührt von Lemmy. H&M bedrucken T-Shirts in Fraktur mit „Motörhead“.
Niemand erschrickt, wenn der Bürokollege plötzlich Lemmy Kilmisters Maxime „Everything Louder Than Everything Else“ auf seiner flachen Brust zu stehen hat. Es geht darum, sich im Familien- und Berufsalltag ein wenig Würde zu bewahren. Schon am 23. November kehrt der letzte wahre Volksheld nach Berlin zurück, mit Motörhead.