Volkssänger

Gunter Gabriel ist jetzt der Anti-Westernhagen

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Michael Pilz

Fast zeitgleich veröffentlichen zwei große deutsche Volkssänger ihre neuen Alben. Bezeichnenderweise ist Gunter Gabriel jetzt bei Marius Müller-Weternhagens ehemaliger Plattenfirma. Während Gabriel zu einem authentischen Spätwerk ansetzt, verkümmert Westernhagen zur Jammerfigur.

Am Tag der Einheit wurde Marius Müller-Westernhagen die Quadriga überreicht. Ein Preis der "Werkstatt Deutschland", eines eingetragenen Vereins, "all jenen gewidmet, durch deren Mut Mauern fallen", wie es in der Satzung heißt.

Die Mauer fiel vor 20 Jahren. Anlässlich des Jubiläums hielten Michail Gorbatschow und Bärbel Bohley die Quadriga in den Händen. Neben Westernhagen, dessen Mut darin bestanden hatte, bereits 1987 das Lied "Freiheit" anzustimmen und im Frühjahr 1990 damit in der Ost-Berliner Werner-Seelenbinder-Halle aufzutreten. "Freiheit" gilt heute als Hymne. Als Gesang des Herbstes 1989.

Seit sich Marius Müller-Westernhagen aus dem Schauspielfach zurückzog, wandelt er als Scheinriese durch die Musiklandschaft. Wie die "Jim-Knopf"-Figur, die in der Ferne wirkt wie ein Titan und schrumpft, je näher man ihr kommt. Sein letzter Film war "Der Madonna-Mann" von 1987. Anschließend verwandelte er sich in "Westernhagen", den entrückten Volkssänger.

Tatsächlich setzte in den ersten Jahren des vereinten Landes niemand mehr Musik um als der Düsseldorfer Ex-Schauspieler. 1998 warb er für Rot-Grün und nahm "Radio Maria" auf im italienischen Exil. Die Reise durch die deutschen Stadien endete mit seinem brüsken Abschied aus den Stadien. Die noch folgenden Alben hießen "In den Wahnsinn" sowie "Nahaufnahme", Westernhagen wurde winziger.

Nun ist er wieder da. Als Preisträger des Mauerfalls und Musiker, der möchte, dass man seine Lieder mag. Das fällt nicht leicht: "Prominentengeil ... Antidepressiva. MTV und Viva. Wetten, dass ...? Viagra. Deutschland Superstar ... Butter oder Rama. Nationales Karma ... Revolution, wer will das schon? Ein Volk von Helden, die Hosen voll."

So gurgelt es einem im Auftaktstück "Hey Du" entgegen. Es ist ja nicht so, dass niemand an der Gegenwart, an Land und Sitten leiden würde, selbst wenn es ihm blendend geht. Aber man ist auch vorsichtig geworden. Mit Systemen, deren Teil man ist, mit selbstgerechten Prominenten und mit Angeboten zur Verbrüderung.

Vom Publikum entfernt

Für sein Comeback-Album hat Westernhagen sich soweit von seinem Publikum entfernt wie nie zuvor. In Hamburg-Winterhude lebt er. Im New Yorker Viertel Williamsburg, einer erblühenden Gegend für Kultur und Immobilien, wurden einheimische Musikanten einbestellt. Darunter Gitarristen von Bob Dylan und Sheryl Crow. Die Band spielt rechtschaffenen Rhythm & Blues, Cajun und Country. Eine Zeile dürfte sie verstanden haben: "Blowin' in the wind" reimt sich auf "Liebe stinkt."

Ein deutscher Dylan wird aus Westernhagen auch mit 60 nicht mehr. Weniger aufgrund erneut missglückter Versmaße und Reime, sondern wegen seiner in ein Dutzend Songs gegossenen Haltung zu sich selber und zum Rest der Welt. Am ärgerlichsten klingt "Wir haben die Schnauze voll": "Und die Moral von der Geschichte/ Du bist noch lange kein Poet/ Schreibst du auch Gedichte/ Und hast du erst einmal die Unschuld verloren/ Ist mit 'We Are The Champions' ein Arschloch geboren."

Das heißt: Wer Stadionhymnen singt, wird nie ein Dichter. Aber wer sind Wir, wer hat die Schnauze voll? Ein, zwei, drei, viele Westernhagens? Die zuletzt verschmähten Plattenkäufer und Konzertbesucher? Der Pluralis majestatis? Das macht ihm noch immer keiner nach: zugleich als grölender Kumpel aufzutreten und sich zu beschweren, dass ihn jeder missversteht in dieser Rolle.

1978 fing es damit an. In Peter F. Bringmanns "Theo gegen den Rest der Welt" schuf Westernhagen die Figur des Ruhrrebellen. Er bekräftigte sie durch "Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz" und Wünschen wie: "Ich will zurück auf die Straße/ Möcht wieder singen/ Nicht schön, sondern geil und laut." Kein Mensch verlangte von ihm, echt zu sein. Solange er über das Loch in seiner Tasche klagte und die Dicken, Alten, Wohlhabenden dem Gespött der Dünnen, Jungen, Mittellosen aussetzte.

Seit Jahren allerdings nimmt er gern wehleidige Lieder über Ruhm und Reichtum auf. Er fühlt sich missverstanden wie im aktuellen "Mann zwischen den Zeilen", den niemand erklären könne aber jeder kreuzigen wolle. Als sich Westernhagen 1994 auf die "Affentour" begab, trat er in seinem eigenen Film auf. Einer Auftragsarbeit für den Dylan-Porträtisten D.A. Pennebaker. Darin hört man einen Bühnenhelfer flüstern: "Marius geht zur Arbeit."

Er kehrt nicht allein zum Dienst am deutschen Pop zurück, zu Deutschrock oder Schlager. Das Comeback von Udo Lindenberg und Nena hat selbst Gunter Gabriel beflügelt. Seine Platte heißt "Sohn aus dem Volk". Eine Art Anti-Westernhagen.

Günther Caspelherr, geboren 1942 im Westfälischen, stieg aus bescheidenen Verhältnissen zum Liedermacher Gunter Gabriel auf. Er lieferte an Peter Alexander und Rex Gildo. In den Siebzigerjahren setzte er sich Hüte auf und sang volkstümlich-deutschen Country wie "Er ist ein Kerl (Der 30-Tonnen-Diesel)" und "Hey Boss, ich brauch mehr Geld".

Er spielte für die Kumpel auf der Brücke von Rheinhausen. In den Achtzigern stürzte er ab. Er scheiterte als Künstler und als Ehemann, an Alkohol und Geldsorgen. So wurde Gunter Gabriel zum Volkssänger. Er war nie Schauspieler, und um den Kumpel glaubhaft zu verkörpern, macht er nun das Beste aus dem ruinierten Schlagersänger, der er war.

Für 1000 Euro konnte man ihn zuletzt mieten. Gunter Gabriel besuchte Silberhochzeiten und 65. Geburtstage, er sang für pensionierte Kranführer und fassungslose Sekretärinnen. Er hat die Schulden tilgen können, seine erste ernst zu nehmende Platte aufgenommen und ein Buch verfasst.

Gabriel schwärmt von Dylan

"Wer einmal tief im Keller saß" erzählt vom Werdegang des Gunter Gabriel, schwärmt von Bob Dylan und amerikanischer Musik. "Sohn aus dem Volk - German Recordings" ist ein deutsches Johnny-Cash-Album. Er würdigt "Haus am See" von Peter Fox, "Zwei Fragen" von Klee und "Blaue Augen" von Ideal als Volksweisen.

Aus "Creep" von Radiohead macht Gabriel "Ich bin ein Nichts". Im Titelstück dient er sich an als "Fackel in Sturm" und "Feuer im Eis dieser Tiefkühlwelt". Man nimmt das sogar ernst damit.

Bei Marius Müller-Westernhagen geht das Trostlied so: "Wir kommen alle aus dir, Mutter/ Jeder ist mit jedem verwandt/ Ja, wir sind alle deine Kinder/ Menschen werden wir genannt." Das hätten nicht einmal die Latzhosen früher gesungen. Westernhagens Plattenfirma hatte ihn nach "Nahaufnahme" vor die Tür gesetzt.

Für ihn ein weiterer Beweis der Ahnungslosigkeit der Plattenindustrie und des Musikgeschäfts. Er sei ein Krisenopfer. Seine eigene kleine Firma nennt er heute Kunstflug. Den Vertrieb des Albums übernimmt das Unternehmen Motor von Tim Renner, bis 2004 Geschäftsführer der größten Plattenfirma Deutschlands. Die Verkaufszahlen werden bescheidener sein, die Einkünfte pro Einheit dafür steigen und die Bühnen wieder wachsen.

Gunter Gabriel steht jetzt unter Vertrag bei Westernhagens langjähriger Plattenfirma. Dass erhabene Songs aus Leid entstehen, mag ein Mythos sein. Dass Sänger aufrichtig oder authentisch wirken müssen, ebenfalls. Vielleicht ist aber auch an populären Mythen manchmal etwas dran. "Wo war ich 68, wo beim Mauerfall?", fragt sich der ehemalige Schlagersänger Gunter Gabriel mit Grabesstimme. Er hat keine Mauern eingerissen, keinen Preis bekommen. Er ist nur ein alter Mann, der Lieder singt.

"Ein Künstler sollte ein Geheimnis sein", sagt Westernhagen.

Marius Müller-Westernhagen: Williamsburg (Kunstflug)

Gunter Gabriel: Sohn aus dem Volk - German Recordings (Warner)