Auf seinem jetzt erscheinenden Album kehrt er zu den Wurzeln zurück, zu amerikanischer Roots Music und Rock ’n’ Roll. Im Interview mit Morgenpost Online zieht Marius Müller-Westernhagen über Politik und Zeitgeist her, gesteht aber auch, dass er manche Rollen in der Vergangenheit nicht hätte annehmen sollen.
Morgenpost Online: Herr Westernhagen, schließt sich musikalisch mit „Williamsburg“ ein Kreis für Sie?
Marius Müller-Westernhagen: Sicher, du gehst immer wieder dahin zurück, wo du herkommst. Aber es ist viel schöner, wenn du es dann besser kannst und noch mehr begriffen hast. Jedes Mal, wenn du anfängst zu arbeiten, beginnst du bei Null. Ich versuche das Beste zu geben, aber ich bin nicht wichtig. Wichtig ist nur was man erschafft. Das, was bleibt.
Morgenpost Online: Sie haben mal gesagt, ein Volk erhalte seine Identität durch Kunst und Kultur und nicht durch Bilanzen. Heißt das im Umkehrschluss, wenn es der Weltwirtschaft und den Bilanzen nicht gut geht, dass auch der Rock’n’Roll leidet?
Westernhagen: Das genaue Gegenteil. Ich glaube, dass Krisen Kreativität fördern. Wenn etwa junge Leute anfangen Musik zu machen, müssen sie das aus den richtigen Motiven tun, so wie wir damals. Uns ging es ums Spielen und dafür haben wir alles getan. Man hat das aus Liebe zur Musik getan, nicht um reich und berühmt zu werden. So sollte es heute wieder sein.
Morgenpost Online: Die Jugend heute lässt sich lieber casten.
Westernhagen: Ja und das tut mir leid. Weil sicher mitunter Leute dabei sind, die talentiert sind, dann aber auf das falsche Gleis gesetzt werden.
Morgenpost Online: Sie bemerken andererseits ein Bedürfnis der Menschen nach Echtheit und Wahrheit. Nun haben sie mit „Williamsburg“ ein Album mit amerikanischer Roots-Music aufgenommen, die im weitesten Sinne für diese Werte steht. Will Westernhagen Werte vermitteln?
Westernhagen: Es wäre schön, aber das würde ja heißen, ich hätte mir das vorher überlegt. Dieses Album ist so passiert. Die Dinge gelingen am besten ohne Kalkül, das merke ich ja auch, wenn ich live auf der Bühne spiele, was am meisten Spaß macht und wo ich vielleicht auch am authentischsten bin. Mich freut, dass die Platte sehr authentisch klingt.
Morgenpost Online: Auch provokant. An wen ist ein Titel wie „Wir haben die Schnauze voll“ adressiert?
Westernhagen: Das betrifft unseren Zeitgeist. Die Menschheit ist in Gefahr und es wird alles verniedlicht. Die Politiker streiten immer noch darum, bis wann sie den CO2-Ausstoß reduzieren wollen, und haben gar nicht begriffen, dass es eigentlich schon zu spät ist. Wir leben in einer Zeit wie in dem Märchen ‚Des Kaisers neue Kleider’. Überall ist mehr Schein als Sein. Das ist auch der Nachteil dieser unglaublichen Medienmacht, die hier herrscht. Es wird nicht gewählt, wer das bessere Programm hat, sondern der, der am sympathischsten rüberkommt. Es ist wie in der Musik, die du im Radio hörst. Alles ist beliebig und austauschbar. Es bringt dir zwar nichts, aber es tut auch nicht weh. Man kann es ertragen. Aber ist das der Anspruch?
Morgenpost Online: Sie haben sich einmal gesagt: „Im Grunde meines Herzen würde ich mich als Anarchist bezeichnen.“ Unüberlegte Jugendsünde oder tatsächliche Überzeugung?
Westernhagen: Manchmal sehe ich mich als friedvollen Anarchisten.
Morgenpost Online: Also auch ein bisschen Überzeugung?
Westernhagen: Eher so eine Grundhaltung. Anarchie könnte funktionieren, wenn alle Menschen sich verantwortlich fühlen würden – für sich und für alle anderen. Aber das funktioniert natürlich nicht. Völlige Freiheit für eine Gesellschaft wird es nie geben, denn jedes politische System hat seine Regeln. Also ist Freiheit eine Illusion oder ein Ideal, an das man so nah wie möglich heranzukommen versucht.
Morgenpost Online: Das Erfolgsrezept eines Künstlers basiert zumeist darauf, dass er auf der Bühne als Identifikationsfigur herhält. Früher waren sie „Theo“, der sympathische Einzelgänger. Was, glauben Sie, sehen Ihre Fans heute in Ihnen?
Westernhagen: Ich weiß es nicht. Ich habe mich oft gefragt, ob es ein Fehler war, diesen Film zu drehen. Meiner Karriere als Schauspieler hat er eher geschadet als genutzt. Auf der einen Seite war ich anscheinend glaubwürdig. Auf der anderen Seite aber war der Film eine Milieustudie, so wie die Alben „Pfefferminz“, „Sekt oder Selters“ und „Stinker“. Im Film wie in der Musik war ich bald auf eine bestimmte Rolle festgelegt. Die Leute im Publikum dachten: Ah, jetzt kommt der Westernhagen – jetzt gibt es was zu lachen! Aber dann kam etwas ganz anderes. Ich wollte als Schauspieler nicht für alle Zeit auf Komödie festgelegt sein.
Morgenpost Online: Wofür steht „Williamsburg“?
Westernhagen: Es ist ein Stadtteil in New York. Wir waren dort im Studio. Ich wollte ein Studio in New York, was inzwischen nicht so einfach ist, weil das Studiosterben auch da präsent ist: Legendäre Studios wie Power Station oder Hit Factory wurden längst dichtgemacht. Ich suchte ein Studio, in dem keine goldenen Platten an den Wänden hängen, das riecht zu sehr nach Industrie. In Williamsburg aber roch es nach Musik. In Williamsburg lebten sehr viele deutsche Einwanderer und Emigranten. Es gab eine große jüdische Community da, du siehst an den Schildern über den Geschäften vereinzelt noch deutsche Namen. Also habe ich mein Album so genannt. Eine intuitive Entscheidung.
Morgenpost Online: Was haben Sie bei diesem Album für sich gelernt?
Westernhagen: Ich bin immer daran interessiert, mit neuen Leuten zu spielen, da lernst du unglaublich viel. Und ich misstraue Musik, die mir an irgendeinem Punkt nicht wehgetan hat, bei der ich nicht an die Grenzen gegangen bin. Ein gutes Zeichen ist, wenn ich abends aus dem Studio fix und fertig nach Hause komme und denke: Das hat Spaß gemacht. Daran merke ich, dass es intensiv war.
Morgenpost Online: Kaum ein deutscher Künstler polarisiert derart stark. Sie werden mit der gleichen Leidenschaft von vielen geliebt, wie Sie vielen anderen als unsympathisch gelten. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Westernhagen: Ich glaube, das ist es, was Kunst erreichen sollte. Ich finde Beliebigkeit fürchterlich, wenn jeder sagen kann: Das ist aber nett! Da ist es mir lieber, wenn einer es grandios findet und ein anderer es total ablehnt. Dann weiß ich wenigstens, dass ich beide berührt habe.