Morgenpost Online: Haben Sie sich auf der legendären Wohnzimmer-Tour wohlgefühlt, bei der Sie für 1000 Euro spielten?
Gunter Gabriel: Es ging um 500.000 Piepen, Steuerschulden. Daraus ist ein Wunderwerk geworden. Was ich da für Leute kennengelernt habe! Klingeling, ich an der Tür, die Frau hat mich gebucht für einen Kranführer aus Bremen. Sie ruft: "Herbert, komm mal her." Das Wohnzimmer ist voll mit Leuten, weil er Geburtstag hat. Herbert kommt und sagt: "Das ist doch 'ne Kopie!" Ich spiele also "Happy Birthday" neben dem Schuhschrank.
Morgenpost Online: Erzählen Sie noch eine Geschichte.
Gabriel: Ich war bei so 'nem Großbauern in Bremerhaven gebucht. Der Sohn hatte das gemanagt. Ich stellte mir einen 70-Jährigen in Gummistiefeln vor. Der war aber wie aus dem Ei gepellt, mit Brioni-Anzug und Krawatte, Budapester und Rolex. Sah super aus. Er fing sofort an zu weinen, als er mich sah. Nachdem ich so und so viele Lieder gesungen hatte, sagt der: "Jetzt sing ,Das schwarze Schaf'", ein Lied von 1972. Hatte ich nicht drauf. Der Bauer hat sich an das Mikro gestellt und gesungen. Da flippe ich aus! So nah dran zu sein - das ist das Größte, was mir eingefallen ist. 450 Jobs hab ich gespielt.
Morgenpost Online: Sehen Sie die schlechten Zeiten positiv?
Gabriel: Das war so, fertig. Ich habe verdammt laut geflucht, und ich war eine Zeit lang aggressiv. Ich konnte gar nicht glauben, dass ich es selbst verursacht hatte. Ich hab gerufen: Hilfe, Hilfe. Hat mir keiner geholfen. Meine damalige Frau sagte: Bei Shell suchen sie 'nen Tankwart. Deine Karriere ist zu Ende. Hat lange gedauert, dass ich heute darüber lachen kann.
Morgenpost Online: Haben Sie weiter geschrieben?
Gabriel: Ja, das war mein Glück. Als es anfing, schlimm zu werden, Mitte der 80er-Jahre, habe ich die Streiks in Rheinhausen mitgemacht. Alle haben gesagt: Schreib endlich 'nen Song über uns. Am letzten Abend der Demos habe ich an der Theke von "Tor 1" geschrieben: "Rheinhausen, du darfst nicht untergehn/ Sonst bleibt kein Stein mehr auf dem andern stehn/ Hier bin ich zu Hause/ Hier gehör ich hin." Wir haben das vor 3000 Leuten in der Turnhalle gesungen, alle haben geweint, ich konnte kaum richtig singen. Viele Hammer-Songs konnte ich nur schreiben, weil ich am Boden war.
Morgenpost Online: Würden Sie sagen, dass Sie ein Pragmatiker sind?
Gabriel: So oder so, ich bin vom Wesen her ein Handwerker. Und ich betrachte mein Leben als eine einzige Baustelle. Ich habe keine Langeweile, ich kann auch nicht einfach so abhängen, im Café etwa. Geht nicht. Ich habe immer zu tun.
Morgenpost Online: Verzetteln Sie sich?
Gabriel: Ja, ich neige dazu. Deshalb muss ich immer Listen machen, damit ich den Weg wieder finde. Wie bei Johnny Cash: I Walk The Line. Ich lese zum Beispiel mit der Schere in der Hand. Was mich interessiert, schneide ich aus und klebe es abends in ein Ringbuch. Und ich weiß, da sind die wichtigen Sachen drin. Pro Monat verbrauche ich so zwei Ringbücher.
Morgenpost Online: Sind Sie denn so akribisch?
Gabriel: Das hat sich so entwickelt. Früher habe ich Zeitschriften nur gestapelt. Manche Sache kann ich wirklich gebrauchen. Neulich habe ich einen schönen Artikel von einem Professor über die FDP gelesen, wo die Partei herkommt, wie sie sich entwickelt hat. Das lese ich dann mehrmals durch und denke: Dufte, wie das beschrieben ist.
Morgenpost Online: Benutzen Sie das als Stoffsammlung für Lieder?
Gabriel: Die Ringbücher passen ja nicht in die Jacke rein, ich habe so ein Notizbuch. Da schreibe ich auch auf, für was ich den Tag über Geld verbrauche. Ich dachte immer: Mensch, wo ist das ganze Geld hin? Ich habe mir also angewöhnt, das aufzuschreiben. Ich bin 1996 nach Hamburg gekommen nur mit 'nem Moped, meinem Führerschein, ein paar Texten in der Tasche und der Gitarre. Heute ist das ganze Boot voll bis obenhin.
Morgenpost Online: Können Sie wegwerfen?
Gabriel: Ja. Aber ich muss es kurz ansehen. Was ich nicht weggearbeitet habe, liegt in Waschkörben, und ich weiß, da ist es.
Morgenpost Online: Wie kamen Sie zum Songschreiben?
Gabriel: Ich habe das richtig gelernt, damals bei Hansa Records, wo Frank Farian auch war, und Fred Jay, der Boney-M.-Lieder geschrieben hat. Dann hat mir Ralph Siegel die Flötentöne beigebracht. Der hatte schon mit 17, 18 seinen ersten Hit in den USA, "It's A Long Way To Georgia", Don Gibson. Wie man einen Song strickt, wie der gebaut sein muss, das hab' ich gelernt. Heute kann ich auf Kommando ein Lied schreiben.
Morgenpost Online: Wie sind Sie auf die Zeile "Hey Boss, ich brauch' mehr Geld" gekommen?
Gabriel: Ich hatte erst die Verse. "Jeden Morgen fahr ich mit dem Fahrrad in' Betrieb". Das war ein bisschen wie "Looking For A Job In The City", die erste Zeile aus "Proud Mary" von Creedence Clearwater Revival. Den Groove hatte ich drauf. Wo mündete das hin? Ich wollte das nicht schlagermäßig machen, es sollte bluesig sein. Bis ich von Charlie Reed das Lied "Big Boss Man" hörte. Wir kannten den Ausdruck "Boss" in Deutschland gar nicht, wir sagten "Chef" oder "Meister". Dann war der Boss da. Der Mittelteil war im Prinzip A-Dur, C-Dur, D-Dur, die Studiomusiker sagten: So macht man das doch nicht, ist gegen die Harmonielehre. Ich sagte: Ist mir egal. So schreibe ich heute noch.
Morgenpost Online: Wollten Sie immer Gitarre spielen?
Gabriel: Unbedingt. Die Initialzündung war Elvis. Ich könnte niemals Klavier spielen, weil man das nicht mitnehmen kann. Deshalb bin ich kein richtiger Motorradfahrer geworden, da konnte ich die Gitarre nicht mitnehmen. Hab ich mal versucht, ist mir der Hals abgebrochen. Scheiße, meine Gitarre muss immer dabei sein.
Morgenpost Online: Wollten Sie unterwegs sein?
Gabriel: Ich habe so weit gar nicht gedacht. Ich war immer ein Einzelgänger, und die Gitarre habe ich am Anfang als Ventil gebraucht, zum Schreien im Kohlenkeller. Mein Vater war bei der Bahn, der kriegte Kohlenstückgut, so dicke Dinger, die die Heizer für die Loks nutzten. Die passten natürlich in keinen Ofen, die musste ich immer zerhacken. Und dieser Keller war praktisch mein erster Übungsraum.
Morgenpost Online: Auch gesungen?
Gabriel: Ich habe geschrien. Lauter so Schimmel-Texte. Und Elvis natürlich. "Tutti Frutti" konnte ja jeder. Aber ich verstand kein Englisch. Dann fing ich an, deutsche Pro-forma-Texte zu schreiben, und es hat mich von Anfang an interessiert, wer die Lieder geschrieben hat. So kam ich an Pete Seeger, Paul Anka, Johnny Cash, Lonnie Donegan und seine "Working Man Songs". Das sind meine Wurzeln.
Morgenpost Online: Mal dran gedacht auszuwandern?
Gabriel: Ich hatte mich ein bisschen verguckt in Rosanne Cash, die Tochter von Johnny. Als ich zum ersten Mal da war, war ich geneigt zu bleiben. Aber ich habe natürlich gemerkt, dass mein Englisch nie zum Songschreiben gereicht hätte. Jetzt weiß ich ganz genau: Ich gehöre in den deutschsprachigen Raum.
Morgenpost Online: Fühlen Sie sich sehr deutsch?
Gabriel: Ich sehe mich als Lokalpatriot. Das habe ich auch von den Amerikanern. Ich sehe mich als mitverantwortlich für mein Land. In meinen Songs sage ich: Lerne erst einmal dein Land zu lieben. Mein Traum ist eigentlich, mit meinem Hausboot nach Paris zu gehen. Aber was soll ich in Paris? Muss ja hier jobben, muss hier auf der Bühne sein.
Morgenpost Online: Sind Sie ein unsteter Mensch?
Gabriel: Absolut. Ich hab' zu viele Ideen, kann mir alles nicht schnell genug gehen. Früher war es noch schlimmer, heute bin ich mehr im Frieden.
Morgenpost Online: Aber bei allen Wechseln sind Sie sich treu geblieben.
Gabriel: Ich bin ein liberaler Mensch, aber ich bleibe auf der Autobahn stets zwischen den Leitplanken. Ich würde niemals für Geld meine Meinung ändern. Vor langer Zeit sagte mein Manager, sing doch mal für die CDU. Da habe ich mich beinahe schwer vergaloppiert. Ich war doch ein Malocher-Sänger. Auch Werbeverträge - Vorsicht, Vorsicht. Da wird sofort deine Freiheit eingeschränkt. Ich hatte mal einen Super-Plattenvertrag, mit zwei Millionen Mark Vorschuss, nicht rückzahlbar. Als die Umsätze einbrachen, habe ich den ganzen Quatsch zurückgegeben. Mein Anwalt hat gesagt: "Bist du nicht ganz dicht? Behalt das Geld, kauf dir ne Finca." Aber ich hatte ein schlechtes Gewissen.
Morgenpost Online: Was hat sich verändert?
Gabriel: Heute erkenne ich, wie wertvoll es ist, Kinder zu haben. Ich kann mehr lieben als früher. Ich kann besser genießen. Wir haben bei den neuen Aufnahmen auch ständig geweint. Ich habe mich gefragt: Bin ich pervers? Ich bin so mitgenommen, ergriffen von den Texten. Wieso ist das so? Ich habe sogar meinen Psychiater angerufen. Der hat gesagt: Toll, dass ich in der Lage bin, so zu empfinden. 20 Jahre möchte ich noch in diesem Zustand wie jetzt sein, das wäre herrlich. Wird wahrscheinlich nicht sein.
Morgenpost Online: Wie ist es mit Bewegung?
Gabriel: Nummer eins: richtige Ernährung. Was ich früher in mich reingeschlungen habe! Jetzt esse ich Trennkost, ab 18 Uhr ist Feierabend. Nummer zwei: Ich habe einen Trainer, der scheucht mich durch ein Parkhaus, 14 Etagen die Treppen hoch. Ab achte Etage bin ich am Röcheln. Er sagt: "Das ist doch nur dein Kopf." Dafür könnt' ich ihn ermorden. Aber ich merke, wie es mir gut tut. Ich brauche die Peitsche.
Morgenpost Online: Denken Sie manchmal an den alten Johnny Cash?
Gabriel: Das war das Bitterste, was ich erlebt habe. Hat mich echt umgehauen. Seine Frau, June Carter, hat uns immer angerufen, ob ich nicht mit will auf die Bühne. Er war oft betrunken, konnte seine Texte nicht mehr. Ich konnte nicht ahnen, dass er so fertig war am Ende. 2003 war das. Sein Sohn fuhr ihn mit dem 500er-Mercedes durch den Park zum Studio. Er konnte nicht richtig aussteigen, zog sich am Türrahmen hoch. Meine Tochter und ich hatten Tränen in den Augen. Eine Krankenschwester kam mit der Gehhilfe, jeden Tag nahm er drei Stunden lang seine letzten Songs auf. Ein Catering-Service brachte Silbertabletts mit Kaviar, Fisch, Weintrauben.
Morgenpost Online: Haben Sie das gehasst, zur Schlager-Szene gezählt zu werden?
Gabriel: Gehasst ist zu viel. Ich fand es einfach unpassend. Wir haben uns bei der Hansa abgrenzen wollen von Leuten wie Bernhard Brink, Roland Kaiser. Damals war es mir scheißegal. Erst im Alter habe ich mich geärgert, wenn ich immer noch Schlager-Fuzzi genannt wurde. Man müsste doch langsam den Unterschied kapieren. Aber ich bin kein Hasser. Nennt mich "Diesel-Cowboy" oder "Arschloch", das ist mir egal, aber lasst den "Schlagersänger" sein.
Morgenpost Online: Können Sie eigentlich reiten?
Gabriel: Nein. Katastrophe. Hab' ich Bilder von einem Versuch in Hannover. Ich bin kein Cowboy in dem Sinne, lebe mehr die Cowboy-Philosophie. Und ich müsste ein Pferd besitzen, mich drum kümmern. Das geht gar nicht, da fehlen mir die Nerven. Auch segeln, nee. Bin eher einer, der den Motor anlässt und losplackert.
Morgenpost Online: Mit Motoren können Sie viel anfangen?
Gabriel: Ich liebe Motoren, bin ein alter Schlosser. Auch diese Trucker-Geschichte ist mir nah. Ich kenne die Problematik von den einsamen Jungs auf der Straße. Ich kann sehr gut mitfühlen, was das für eine Scheiße ist, die kaputten Ehen, das ewige Unterwegssein. Montags liegen die meisten Trucks im Graben. Sie fahren Sonntagabend 22 Uhr los, nach sechs, sieben Stunden kommt die Müdigkeit.
Morgenpost Online: Romantisieren Sie?
Gabriel: Ich rede davon, dass die Typen im Eimer sind.
Morgenpost Online: Worauf können Sie gut verzichten?
Gabriel: Übermäßiges Hab und Gut.
Morgenpost Online: Und worauf schlecht verzichten?
Gabriel: Strom. Musik. Bücher.
Morgenpost Online: Wovon träumen Sie?
Gabriel: Tahiti.
Morgenpost Online: Sie mögen Bademäntel und Trainingsanzüge lieber als Anzüge?
Gabriel: Ich liebe es, morgens im Hafen aufzustehen und locker zum Kiosk zu gehen. Find' ich klasse. Ich kann auch den Schweißern sagen: Eure Kluft ist so dreckig, ich bezahl euch die Wäscherei.
Morgenpost Online: Haben Sie Reuegefühle?
Gabriel: Ja. Ich habe einen Haufen Mist gebaut, den bereue ich.
Morgenpost Online: Wie war das nach Ihrem Herzanfall?
Gabriel: Als ich den letzten Anfall bekam, standen wir auf dem Weg nach St. Georg im Stau. Da habe ich um mein Leben geschrien. Ich bin dann aus dem Wagen gesprungen und die letzten 500 Meter gelaufen, weil ich so eine Angst hatte, dass ich abkratze. Schrecklich, ich war in absoluter Panik.
Morgenpost Online: Setzen Sie das um?
Gabriel: Ich muss einfach mal Songs schreiben, bei denen man weinen muss. Nicht immer diese Hauruck-Lieder. Ich bin älter geworden, ich kann heute über viele Dinge besser reden. Ich blicke durch, ich bin unerschrocken. Nichts kann mir mehr passieren. Der Tod ist herzlich willkommen. Bloß ein paar Lieder muss ich noch aufnehmen.
Morgenpost Online: Können Sie gut lügen?
Gabriel: Klar. Kommt ganz selten vor.
Morgenpost Online: Bei Frauen?
Gabriel: Manchmal war es notwendig. Ich war nur gelegentlich treu. Für eine feste Bindung bin ich einfach nicht in der Lage. Die Zeiten sind vorbei. Ich genieße es, allein zu sein. Aber vielleicht öffnet sich noch mal der Himmel.
Morgenpost Online: Ist für Sie das Glas halb voll oder halb leer?
Gabriel: Den Ausdruck „halb leer“ kenne ich gar nicht. Ich bin ein gnadenloser Nach-vorne-Stürmer. PGH war immer mein Ding, Positive Geisteshaltung. Elvis hatte immer „TCB“ auf dem Gürtel stehen, „Take Care of Business“. Würd’ ich nie benutzen. PGH, positive Geisteshaltung, egal was kommt.