Vier Kaiserlein

Schlingensief, Kaiserlein der Neuen Deutschen Welle

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Matthias Heine

Foto: Matthias Colli

Zu Beginn seiner Karriere gründete Christoph Schlingensief die Band Vier Kaiserlein. Diese Musik war sein Meisterstück.

Wenn Menschen auf die fünfzig zugehen, neigen sie dazu, vergessene Episoden ihrer Jugend in weichem Licht zu betrachten. Vermutlich wird diese Tendenz verstärkt, wenn man den nahen Tod vor Augen hat. Und so scheint für den Regisseur Christoph Schlingensief, der vor einer Woche mit erst 49 Jahren an Krebs gestorben ist, in seinen letzten Lebensjahren eine Affäre wieder wichtig geworden zu sein, die fast dreißig Jahre keine große Rolle für ihn gespielt hat: "Wenn er zuletzt in München bei öffentlichen Veranstaltungen auftrat, etwa in den Kammerspielen oder im Filmmuseum, erzählte er erstaunlich viel von den Vier Kaiserlein und von ,Mode und Verzweiflung'", erzählt die Musikerin und Malerin Michaela Melián.

Die Vier Kaiserlein waren Schlingensiefs Band in den frühen Achtzigerjahren, und "Mode und Verzweiflung" war eine vom Musiker und Schriftsteller Thomas Meinecke herausgegebene Zeitschrift - das Zentralorgan einer Gruppe von Künstlern, Musikern und Autoren, die alle von jenem kreativen Aufbruch inspiriert waren, der in England mit Punk 1975/76 begann und bald darauf nach Deutschland schwappte. "Neue Deutsche Welle" war das Etikett, unter dem diese Musik verkauft wurde, und der DAF-Hit "Verschwende deine Jugend" war das geheime Motto der Szene - so heißt auch ein Buch, das der Autor Jürgen Teipel über diese Bewegung geschrieben hat.

Tobias Gruben starb den Musikertod

Darin kommen die Vier Kaiserlein allerdings nicht vor. Zu kurz existierten sie, zu eng war ihr Wirkungskreis, und nur ein einziges Lied von ihnen wurde veröffentlicht, solange es die Band gab. Bekannt wurden sie erst dadurch, dass zwei ihrer Mitglieder später anderweitig zu Ruhm gelangten: Tobias Gruben und Christoph Schlingensief. Gruben gründete 1984 in Hamburg die Gothic-Gruppe Cyan Revue und später dann Die Erde. Beide Bands genießen heute einen Legendenstatus. Gruben starb 1997 an den Folgen seines Drogenkonsums - ein klassischer Musikertod.

Kennengelernt hatten er und Schlingensief sich in einem Haus im Münchner Westend, in dem damals sowohl Schlingensief als auch Thomas Meinecke wohnten. Dort wurde auch der Name Vier Kaiserlein in der Vorweihnachtszeit das Jahres 1981 ersonnen - nach einer Nürnberger Spezialität. Meinecke erinnert sich: "Christoph und ich kamen auf den Namen anlässlich einer Lebkuchenschachtel, die zufällig auf seinem oder meinem Tisch lag. Wir wohnten damals im selben Haus, und Christoph verbrachte so gut wie jeden Abend bei mir und meiner damaligen Freundin. Er war 19 und frisch aus Oberhausen zugezogen, da waren wir als 24- respektive 22-Jährige so etwas wie Ersatzeltern." Schlingensief hatte die Dachgeschosswohnung in der Bergmannstraße übrigens bekommen, weil im Erdgeschoss eine Apotheke war. Deren Besitzer war mit Schlingensiefs Vater, ebenfalls Apotheker, bekannt.

Thomas Meinecke und Michaela Melián spielten damals schon in der heute noch existierenden Münchner Gruppe Freiwillige Selbstkontrolle (FSK). Kein Wunder, dass es auch den jungen Christoph Schlingensief, der an der Münchner Filmhochschule abgelehnt worden war, erst mal zur Musik zog. Michaela Melián erzählt von den "diversen Instrumenten", die er sich kaufte und mit denen er - darin typisch Punk - sich bald auf die Bühne wagte: "Im Januar 1982, es lag Schnee, ist Christoph alleine mit Keyboard und Trompete in der Mensa der Universität Innsbruck als unsere Vorgruppe aufgetreten", so Melián.

Christoph Schlingensief spielte Orgel

In Innsbruck habe er wohl auch Tobias Gruben kennengelernt. Der reiste damals zu fast jedem Auftritt von FSK - als Fan. Im Gegensatz zu ihm hatte Schlingensief aber ein Auto. So fanden die beiden sich in einer Zweckgemeinschaft zusammen, aus der dann eine musikalische Partnerschaft wurde.

Gruben und Claudia Hauser sangen bei den Vier Kaiserlein, Christoph Gerozissis spielte Schlagzeug und Schlingensief Orgel. Ja - Orgel! Matthias Colli, der später als Gitarrist zur Band stieß, erklärt das so: "Ich meine, er hätte immer das Wort Orgel benutzt, das lag für einen ehemaligen Messdiener der Katholischen Kirche ja nahe. Außerdem war es ein deutsches Wort, was wichtig war. Keyboard war ein Wort für Altrocker. Mal davon abgesehen, dass Christoph damals so gut wie kein Englisch sprach."

Das erste Konzert der Vier Kaiserlein fand am 12. Februar 1982 in der Aula der Kunstakademie München statt - wieder im Vorprogramm von FSK. Der ungnädige Kritiker Karl Bruckmaier von der "Süddeutschen Zeitung" notierte, ihr "unverfrorener Dilettantismus" hätte "das mit schrägen Tönen vertraute Publikum mit Noten- und Textblättern provoziert". Er hörte viele "Aufhören!"-Rufe. Seltsamerweise nennt er die Band "Die kleinen Kaiserlein".

Herzerweichende Schnulzen und reichlich Beifall

Dieser Name geistert auch durch eine Kritik von Jürgen Elsässer in den "Stuttgarter Nachrichten" vom 22. März 1982. In der schwäbischen Großstadt war eigentlich ein FSK-Konzert angekündigt. Dann erkrankte ein Musiker. Stattdessen fuhren Michaela Melián und Christoph Schlingensief hin und traten als Duo "Roy Glas und Fritzi Krieg" auf. Elsässer beschrieb das Szenario eines wohl ziemlich typischen Schlingensief- Auftritts: "Glas rückte zunächst einen Stuhl in die Bühnenmitte, nahm die Keyboards auf die Knie, stellte die Rhythmusmaschine an und legte seine Trompete und diverse Gegenstände für Spezialeffekte in Reichweite."

Nachdem Fritzi Krieg alias Melián sich dazu gesellt hatte, brachten die beiden einige "herzerweichende Schnulzen" im "Schlagerstil der Fünfzigerjahre". Das Lied "Einsam" aus dem Repertoire der Vier Kaiserlein wurde auch vorgetragen. Der Chronist notierte "reichlich Beifall". Elsässer ist übrigens heute ein Autor, von dem man nicht weiß, ob er radikal links oder radikal rechts ist oder ob es da sowieso keinen Unterschied gibt.

1983 stieß Colli als festes Bandmitglied zu den Vier Kaiserlein. Er lernte Schlingensief ebenfalls in Meineckes Wohnung im 2. Stock in der Bergmannstraße kennen. Beide drängte es eigentlich eher zum Filmemachen als zur Popmusik. Colli: "Über die Musik für Christophs erste kürzere Filme ,What happened to Magdalena Jung? Die Macht der Unschuld' und ,Phantasus muss anders werden / Phantasus go home', die 1983 entstanden, bin ich in die Band gekommen, weil eine Gitarre noch eine gute Ergänzung war und Christoph und ich bei Film und Musik die gleiche Wellenlänge hatten." Colli und Gerozissis traten auch in Schlingensiefs erstem längeren Film "Tunguska - die Kisten sind da" auf.

Die Band hatte zu wenig geübt

1983 nahmen die Vier Kaiserlein ihre erste Langspielplatte auf. Zuvor war bereits 1982 das Lied "Einsam" auf einem Sampler namens "Wunder gibt es immer wieder" des Hamburger Labels ZickZack erschienen. ZickZack gehörte Alfred Hilsberg. Der hatte als Journalist in "Sounds" mit einer Artikelserie namens "Aus grauer Städte Mauern" den Begriff "Neue Deutsche Welle" bekannt gemacht. Dann fing er selbst an, auf ZickZack Platten von Künstlern, die ihm gefielen zu veröffentlichen. Darunter FSK, Palais Schaumburg, Abwärts, die Einstürzenden Neubauten und Andreas Dorau.

Matthias Colli erinnert sich an die Aufnahmen für die Platte: "Wir waren vier Wochen lang im Studio bei Alfred Hilsberg in Hamburg. Am Ende wurde die LP nicht veröffentlicht, weil wir auch selbst nicht mit den Aufnahmen zufrieden waren. Holger Hiller von Palais Schaumburg war in der vierten Woche für ein paar Tage da, mischte ein paar Stücke neu ab, ließ sie auch auf einem Ghettoblaster laufen, um die akustische Massentauglichkeit zu prüfen, und schlug vor, Instrumentenspuren neu einzuspielen. Auch die Genauigkeit des Zusammenspiels fehlte ihm. Er hatte recht, wir hatten einfach zu wenig geübt."

Bald darauf lösten sich die Vier Kaiserlein auf. Colli arbeitet heute als Wissenschaftsmanager im Berliner Klinikum Charité. Christoph Gerozissis lebt als Galerist in New York und ist mit seiner Band The Baskervilles noch musikalisch aktiv. Was Claudia Hauser macht, weiß keiner der Befragten.

"Vier Kaiserlein" – Schlingensiefs Paradestück

Die Musik der Vier Kaiserlein kursierte allerdings als Kassette, damals ein sehr gängiges Medium für Erstveröffentlichungen ambitionierter, aber finanzschwacher Bands. 2004 hat sie der Punk-Fan Franck Herges als Vinyl-Schallplatte mit einer Auflage von 300 Exemplaren veröffentlicht. Herges bringt auf seinem Label "Was soll das?-Schallplatten" in St. Ingbert ausschließlich solche Aufnahmen von "Kassettenbands" der frühen Achtzigerjahre heraus. Das Tape der Vier Kaiserlein hatte ihm der Musikmanager Tim Renner zugeschickt. Renner war bereits als 16-Jähriger ein bekannter Musikjournalist. So kam er zu der Kassette: "Ich habe mit Christoph 1983 bei meiner NDR-Sendung ,Der Bericht zur Lage der Nation' zusammengearbeitet. Er war der München-Korrespondent."

Herges beschreibt den Sound der Vier Kaiserlein als "minimale musikalische Kunstpoesie": "Es waren meist kleine Geschichten in Liedform über Autounfälle, Liebe und Schmerz." Er, der nun wahrhaftig viel Schräges gehört hat, sagt: "Ich kenne keine zweite Band, die sich so anhört." Auch Matthias Colli sagt, die Musik sei "mit das Beste, was Christoph Schlingensief gemacht hat. Hier konnte er seinen ganzen Charme, seine ganze Verspieltheit zum Ausdruck bringen, seine extrem hohe Sensibilität und sein Harmoniebedürfnis."