Schwer vorstellbar, dass Christoph Schlingensief nicht mehr lebt. Aber noch viel abwegiger erscheint der Gedanke, dass er nicht mehr mit uns redet. Niemand hat mehr getextet, erzählt, phantasiert als dieser große Universalkünstler, der die ganze Welt wie eine Probebühne behandelte – oder wie ein chaotisches Filmset, an dem Ton und Kamera pausenlos laufen. In einem gewissen Sinn war alles, was er sagte, Regieanweisung. Und ganz in seinem Element war er nur, wenn man ihm ein Megafon in die Hand drückte.
Wer redet, ist nicht tot: Schlingensief nahm dieses Motto von Gottfried Benn wörtlich. Und weil er spürte, dass sein Lebenselixier eine knappe Ressource ist, sprach er doppelt so schnell wie normale Leute. Er konnte einen Bissen seines Steaks kauen und gleichzeitig Ausführungen über Deutsch-Südwestafrika halten, ohne dabei hektisch oder unhöflich zu wirken. Auch in Telefonaten machte er weder Punkt noch Komma. Den Gedanken, der ihn dabei antrieb, brachte er vor zwei Jahren bei einem Gespräch in Duisburg auf den Begriff, da hatte er gerade seine erste Chemotherapie überstanden und war auf dem Weg der Genesung: „Wer so viel Mist baut, muss irgendwann die Schnauze gestopft bekommen.“
Damals grinste Schlingensief wie ein Schüler, der weiß, dass er das Klassenbuch einmal zu oft angezündet hat – und wirklich wusste wohl kaum jemand besser, wie man Streiche spielt. Es waren unvergessliche Streiche, weil sie unsere Aufmerksamkeit auf die blinden Flecken des Medienalltags lenkten. Als Schlingensief 1998 alle vier Millionen Arbeitslosen der Bundesrepublik aufforderte, Bundeskanzler Kohl im Urlaub am Wolfgangsee zu besuchen, kamen nur ein paar hundert Leute – aber die Aktion machte mehr Schlagzeilen als jede Großdemonstration. Als er 2000 vor der Wiener Staatsoper Container aufbaute, in denen Asylbewerber nach dem Prinzip von „Big Brother“ darauf warteten, herausgewählt zu werden, brachte er ausgerechnet die FPÖ dazu, gegen die Verwendung eines SS-Mottos zu klagen. Und als Jürgen Möllemann im Bundestagswahlkampf 2002 mit einem selbstgedruckten FDP-Flugblatt gegen Israel hetzte, war es Schlingensief, der mit einer Voodoo-Performance auf Möllemanns Düsseldorfer Beratungsfirma WebTec hinwies, die ziemlich dubiose Geschäftsbeziehungen in den Nahen Osten unterhielt.
Man hat Christoph Schlingensief Aktionismus vorgeworfen, ihn als Medienclown missverstanden. Dabei erinnerte er die zutiefst abgeklärte Kulturszene einfach nur daran, dass Handeln möglich ist, ohne jeden Sinn für Widersprüche über Bord zu werfen. Einmal, das war in Köln nach einer etwas verkrampften Podiumsdiskussion über „Die Kraft der Negation“, ahmte Schlingensief abends in einer Cocktailbar eine Aktion von Joseph Beuys nach, die ihn für sein Leben geprägt hat: „Ja ja ja ja ja“, seufzte er immer wieder mit geschlossenen Augen, und im Wechsel dazu: „Nee nee nee nee nee.“ Niemand hat mehr Zweifel, mehr nackte Angst in seine Kunst eingebracht als Schlingensief.
Eine Trennlinie zwischen Leben und Werk gab es nicht
Dass er dabei trotzdem fast bis zuletzt blendend aussah und bestens aufgelegt war, gehört zu den Wundern dieser Biografie. Schlingensief war der große Sonnenschein der deutschen Kulturlandschaft. Einer, der schon als Schüler Super-8-Filme drehte und im Keller seines Oberhausener Elternhauses Soiréen mit Helge Schneider veranstaltete – und der später die traditionsreichsten Institutionen gleich reihenweise mit seinen Aktionen belebte, von den Oberhausener Kurzfilmtagen bis zur Berliner Volksbühne, von Bayreuth bis zur Kunstbiennale in Venedig, wo er 2003 einen Pfahlsitzwettbewerb veranstaltete und im Jahr 2011 den deutschen Pavillon hätte gestalten sollen.
Dabei war es egal, ob Schlingensief mit alten Fassbinder-Filmstars wie Irm Hermann und Udo Kier arbeitete oder mit jener Truppe von Freaks und Behinderten, denen er sein Leben lang die Treue hielt und um die er sich hinter der Bühne und auf Premierenfeiern mit zärtlicher Geduld kümmerte. Schlingensief setzte sich in Bayreuth dem Fegefeuer der wagnerianischen Eitelkeiten aus und schlug sich erfolgreich mit Tenören herum, aber bei sich selbst wirkte er dann, wenn er in einem alten Jeep mit aufgepflanztem Lautsprecher durch Gelsenkirchen kurvte, um mit ein paar dahergelaufenen Ruhrgebietlern eine „Wagner-Rallye“ zu veranstalten. Gewissermaßen umkreiste er mit all seinen Arbeiten das Elternhaus – und die schlimmen Krankheitsgeschichten beider Eltern, die er immer wieder in krasser Form auf der Bühne verhandelte, nahmen auf eine gespenstische Weise sein eigenes Schicksal vorweg.
Einmal stellte Christoph Schlingensief einen Studenten an, um das unglaubliche Chaos in seinem Berliner Mietshauskeller zu ordnen – Kisten voller Filmrollen, Drehbücher, Fotos, Briefe und Tonbänder. Es war eine unmögliche Aufgabe. Denn eine Trennlinie zwischen Leben und Werk, zwischen intimsten Dokumenten und Arbeitsprojekten ließ sich bei Schlingensief nie ziehen. Seinem Adenokarzinom hat er in den letzten zwei Jahren seine vielleicht stärksten, wahrhaftigsten Bühnenstücke abgerungen – Aufführungen, die von der ganzen Trostlosigkeit des Sterbens handelten und es schwer machten, nicht in Schluchzen auszubrechen. Traf man ihn später in der Theaterkantine, dann hat er gelacht. Und geredet. Am Samstagmorgen ist Christoph Schlingensief mit fast fünfzig Jahren gestorben, aber wir hören immer noch seine Stimme.