Nach den Nachrufen

Wie Christoph Schlingensief über den Tod sprach

| Lesedauer: 22 Minuten

Christoph Schlingensiefs Stimme bleibt, auch wenn die Nachrufe verklungen sind: Mit Alexander Kluge sprach er 2002 über das Sterben.

Die Toten sind nicht tot

Kein Nachruf. Christoph Schlingensief live: Entweder hat Christoph Schlingensief nie gelebt, oder er ist nicht tot. „Erlöst die Nachrichten von der menschlichen Gleichgültigkeit!“

Erstmals traf ich Christoph Schlingensief bei der Beerdigung von Alfred Edel, einem der großen Charakterdarsteller des Neuen Deutschen Films; er hat in meinen Filmen gespielt (z.?B. in „Abschied von gestern“) und in denen von Christoph Schlingensief (z.B. „Das deutsche Kettensägenmassaker“). Jeder von uns hielt eine der Reden. Wenn wir später stritten, war Alfred Edel unser Schiedsrichter. Die Toten sind nämlich nicht tot. Mit diesem Gedanken tröste ich mich über den Tod meines Freundes Christoph. Mit seiner Frau Aino, die wie Beethovens Leonore (buchstäblich bis zur letzten Minute) um sein Leben gekämpft hat, ihn aus dem Kerker bis zuletzt befreien wollte, teile ich die Meinung, dass er uns zusieht, was wir jetzt machen.

In seinem Auftrag bohren wir weiter. Die Druckverhältnisse in 5500 Metern Wassertiefe sind längst nicht erforscht.

In Friedrich Rückerts „Kindertotenliedern“ trauern die nicht gestorbenen Kinder um die gestorbenen Geschwister. Es heißt dort: „Da singt die ganze Kinderschar / sie sind nicht tot / das ist nicht wahr!“ Warum soll ich etwas anderes für wahr halten?

Wenn Texte, so wie dieses Typoskript, mit drei Punkten („…“) enden, bedeutet das, dass sie weitergehen, nur sind sie nicht mehr zu hören. Christoph Schlingensief ist, wie man im hier abgedruckten Dialog (und davon gibt es etwa vierzig) sieht, immer noch sehr lebendig.

Alexander Kluge

Alexander Kluge: Als wir das letzte Mal telefoniert haben, sprachen Sie vom Tod, er hat Sie ein bisschen umzingelt gehalten.

Christoph Schlingensief: Es tauchte auf ganz merkwürdige Art auf. Ich habe solch komische Rhythmen schon einmal erlebt. Ich kenne zum Beispiel auch den Rhythmus, dass die Jugend zurückkehrt, Schulkameraden sich plötzlich gehäuft am Telefon wieder einfinden oder auf der Straße Lehrer auftauchen, dass Verwandte, die ich nur von Fotos kenne, sich plötzlich melden, solche Rhythmen habe ich auch. Alle 14 bis 15 Monate existiert so eine Zeit.

Kluge: Wie zur wilden Jagd des Geistes, es umkreist einen Planeten, manchmal kommt es zurück.

Schlingensief: Es umkreist den Planeten, kommt wieder zurück, wie so ein schwarzes Loch halt, es umkreist mich wie ein Wurmfortsatz, und jetzt ist der Tod plötzlich massiv zurückgekehrt. Ich bin in meinem neuen Stück „Rosebud“ eingesprungen für einen Schauspieler, der sich das Rückgrat angeknackst hatte, nicht in meinem Stück, in einem anderen. Ich musste die Rolle übernehmen, das habe ich gerne getan, habe viel gespielt und rumgebrüllt, und dann gibt es eine Szene, wo vorne Martin Wuttke und Bernhard Schütz sich streiten, und sie haben beide Jagdgewehre. Die legen sie ab, um sich dann körperlich zu streiten und anzubrüllen, die Auseinandersetzung zwischen Kanzler und FDP-Abgeordnetem ist das.

Diese Gewehre sah ich dort liegen und habe eines genommen, weil ich in diesem Stück eine große Todessehnsucht habe. Ich will den Pulitzer-Preis haben, ich will ihn aus der Hand von Claus Peymann, damit ich endlich wieder schlafen kann und träumen kann, das ist meine Rolle. Es ist die Rolle eines Journalisten aus Berlin, auch als Vorlage. Ich nehme das Gewehr und versuche jetzt, es so auf den Bauch zu stemmen (zeigt mit den Händen die Position des Gewehres), verschiedene Todesposen einzunehmen: Wo könnte ich reinschießen, wo geht es schnell und hat Konsequenzen, die wirklich auch nicht mehr zu reparieren sind.

Am Schluss kam ich auf die Idee, das Gewehr in den Mund zu nehmen, und habe den Lauf, wie das Mikrofon, so reingenommen, habe es hier oben (zeigt es mit den Händen) und wollte gerade abdrücken, da war die Szene aber vorbei, und Bernhard Schütz schrie: „He, gib mir mein Gewehr.“ Da musste ich sofort das Gewehr absetzen, gab es ihm, dann ist das Stück zu Ende gegangen, nach 20 Minuten bin ich von der Bühne, da kam der Inspizient und sagte zu mir: „Du weißt schon, dass das geladen war?“ Obwohl ich das Stück inszeniert habe, obwohl ich weiß, dass die auch aufeinander schießen, habe ich in diesem Moment, wie in einem eigenen immanenten Zustand, ich war nicht beeinflussbar, habe ich dieses Gewehr?…

Kluge: …Platzpatronen…

Schlingensief: Bei den Platzpatronen kommt so ein Feuerstrahl raus (zeigt durch den Abstand seiner Hände die Länge des Feuerstrahls), und der Requisiteur sagte, die eine Gesichtshälfte wäre zumindest weg gewesen.

Kluge: Ja.

Schlingensief: Das war die erste Begegnung damit.

Kluge: Das ist wirklich nah.

Schlingensief: Das war ganz nah. Da habe ich auch nachher, wie man das manchmal in Filmen sieht, meine Freundin gebeten, mich zu kneifen, auch beim Fernsehen am Abend habe ich zwischendurch gesagt, sie soll mich kurz mal ins Gesicht schlagen oder kneifen?…

Kluge: …ob Sie noch da sind.

Schlingensief: Ob ich es wirklich bin. In meinem Leben bin ich, glaube ich, dreimal gestorben. Einmal bin ich gestorben, als ich meinen Führerschein gerade hatte und den Wagen meines Vaters in Bad Harzburg benutzt habe. Da habe ich ein Überholmanöver am Berg gemacht, wo ich nur ganz knapp vor einem Lkw wieder einscheren konnte, und dieses Bild des Ausscherens und Wieder-Einscherens kenne ich nur von außen. Ich habe es von außen gesehen. Ich glaube, an der Stelle bin ich schon einmal gestorben, die zweite Stelle habe ich jetzt vergessen, die dritte Stelle ist die mit dem Gewehr. Die zweite Stelle fällt mir vielleicht wieder ein. Auf jeden Fall, das war die erste Begegnung jetzt gerade mit dem Tod, und die zweite Begegnung kam dann zwei Tage später mit der Post. Es war ein Briefumschlag, DIN A4, den mache ich auf und sehe das Schriftbild der „SZ“, da steht: „Christoph Schlingensief ist tot. Er starb an Herzversagen.“

Kluge: Ein Irrtum oder ein Scherz?

Schlingensief: Ich wusste es nicht, dann mache ich das nächste auf, das Schriftbild der „FAZ“: „Schlingensief …“

Kluge: Das muss ein Irrtum sein.

Schlingensief: „Schlingensief, der Provokateur, ist tot“ oder „Aufgabe erfüllt: das große Nichts.“ Immer mehr solcher Überschriften. Einmal bin ich beim Autounfall umgekommen, einmal beim Flugzeugabsturz, einmal bin ich an Herzversagen gestorben und einmal durch Selbstmord. Das waren so die vier Todesarten, die darin vorkamen in den zehn Nachrufen, es waren alles Nachrufe in der Länge (zeigt mit den Händen etwa eine halbe Zeitungsseite), sehr nette sogar, zwei waren so ein bisschen nörgelig, wie man das schon öfter mal gehört hat. (Schaut nach oben) Es wird heller, es scheint jetzt doch das Leben zurückzukehren. Ich habe das gelesen und kriege dann mit, dass das die Journalistenschule aus München ist...

Kluge: …die eine Übung gemacht hat...

Schlingensief: …von Bernd Sucher, diesem Theaterkritiker, die eine Übung gemacht hat, der unterrichtet dort und hat gesagt: Schreiben Sie!

Kluge: Wie würde man einen Nachruf schreiben? Leistungsnachweis für Jungjournalisten an Ihrem Beispiel. Das ist sehr unangenehm.

Schlingensief: Es ist ein komischer Moment.

Kluge: Selbst wenn man hervorragend dasteht, sieht man sich nicht gerne tot.

Schlingensief: Die Studenten haben es mir zugeschickt und haben auch geschrieben, also man merkt den gewissen Stolz, und es ist interessant…

Kluge: …ob Sie nicht einen kleinen Kommentar dazu geben könnten?

Schlingensief: Ja, welcher Nachruf mir am besten gefällt. Es ist interessant, dass der Duktus dieser Jungjournalisten wirklich auch schon dem der älteren gleicht. Man hat das Gefühl, dass sie sehr stark daran orientiert sind: Wie die älteren schreiben, so schreibe ich auch. Der nächste Kontakt mit dem Tod war zwei Tage später ein Anruf von der Zeitung „Die Zeit“, ob ich einen Nachruf auf Hildegard Knef schreiben könne. Ich habe es nicht mehr ganz verstanden und habe zu meiner Freundin gesagt: Was ist denn das schon wieder, ein Nachruf auf die Knef.

Kluge: Vielleicht ist das ja auch nicht wahr, dachten Sie wohl im ersten Moment?

Schlingensief: Das kann nicht wahr sein, jetzt soll wohl ich üben. Dann habe ich diesen Nachruf auch noch geschrieben, bin danach ins Flugzeug nach Zürich gestiegen und zum „Hamlet“ geflogen, wo ich da mitspiele. Vor der Vorstellung bekam ich extreme Kopfschmerzen und habe eine Aspirin genommen und total vergessen, dass ich auf Aspirin sehr stark allergisch reagiere, und habe dann eine Allergie bekommen, die ich eigentlich seit Jahren gar nicht mehr hatte, vor zehn Jahren aber extrem stark immer hatte, auch auf der Bühne öfter mal hatte.

Kluge: Wie wirkt sich das aus?

Schlingensief: Das ist ein anaphylaktischer Schock, es fängt nach zehn Minuten in den Armbeugen an zu kribbeln, geht dann hier in den Hals (umfasst mit beiden Händen seinen Hals zum Nacken hin).

Kluge: Während Sie auf der Bühne spielen?

Schlingensief: Während ich spiele, während ich rede, merke ich schon, dass es anfängt, und dann kommt auch schon ein Schweißausbruch, und der Kopf wird so langsam zusammengedrückt (fasst mit den Händen an seinen Kopf und drückt mit den geballten Fäusten beidseits gegen die Schläfen), also man merkt, dass die gesamte Kopfhaut anfängt zu arbeiten und ganze Armeen marschieren auf, also wirklich die ganzen Kämpfer und Krieger und Gegner.

Kluge: Also das ganze Immunsystem. Sie greifen sich selber an, Bürgerkrieg.

Schlingensief: Es ist Bürgerkrieg angesagt, und es explodiert ein Super-GAU. Innerhalb von zehn Minuten explodiert mein Körper wirklich, und dann habe ich auf der Haut Millionen von kleinen Quaddeln, die sehen aus wie bei einem Krokodil, die großen und die kleinen, meine Haut besteht dann praktisch nur noch aus so Bildern, wie man sie aus den übelsten Berichten aus Afrika kennt, wenn dort die Beulenpest oder Ähnliches ausbricht. Es ist ein großer Ekel bei den Leuten um mich herum zu entdecken, die das dann natürlich, wenn ich meine Arme und den Bauch zeige, nicht verstehen. Das Einzige, was frei bleibt, ist das Gesicht, also das Gesicht…

Kluge: …man kann es nicht einmal nachweisen, was einen so quält, also die Zuschauer sehen es nicht, denn Sie waren ja angekleidet auf der Bühne.

Schlingensief: Ja, ich bin erst einmal von der Bühne runtergegangen und habe den Notarzt verlangt. Im Zuschauerraum in Zürich sitzt immer der Notarzt, das gibt es in Berlin nicht, aber in Zürich sitzt immer einer, denn die Schweiz ist nun einmal sehr gefährdet im Moment.

Kluge: Da ruft man ins Publikum: Ist ein Arzt vorhanden? Es ist eigentlich immer einer anwesend.

Schlingensief: Fast immer, das stimmt. An der Volksbühne, denke ich manchmal, da sitzen kaum Ärzte. Dann bin ich also von der Bühne runter, es kam ein Notarzt, ein Kinderarzt ist es gewesen, der hat mir dann Cortison und Tavegil gespritzt, danach geht das auch wieder nach 20 Minuten völlig weg, es bleiben dann nur so rote Flecken übrig, aber das Herz rast. Das Gute an meiner Allergie ist, dass sie nicht auf die Lunge schlägt, denn wenn es auf den Hals schlägt, dann ist hier unten erst einmal dicht (er macht mit der Hand eine Querbewegung über dem Halsansatz).

Kluge: Dann muss man aufschlitzen.

Schlingensief: Ja, dann muss man aufschlitzen, muss da reinblasen. Es geht auf alle Fälle alles wieder weg, aber es geht unglaublich aufs Gemüt, man wird ganz schwer. Als ich eine leichte Besserung verspürte, habe ich die Regieassistentin gebeten, auf der Bühne den Leuten zu sagen, dass ich jetzt nicht mehr spielen will. Das hat sie den Leuten gesagt, kam wieder und sagte: Die glauben mir nicht.

Kluge: Was sollten Sie eigentlich spielen?

Schlingensief: Fortinbras, aber eine Variation.

Kluge: Die große Rolle aus „Hamlet“.

Schlingensief: Die riesige Rolle, der irgendwann einmal auftaucht.

Kluge: Ja. Aber in Ihrer Inszenierung kommt er ja öfter vor, bei Shakespeare kommt er nur am Schluss vor und übernimmt das Reich.

Schlingensief: „Was mich betrifft, mein Glück umfang ich trauernd“, das ist sein Schlusssatz, und das sage ich auch gerne, denn viele Siege fallen mir ja zu, ohne dass ich tatsächlich dafür kämpfen musste. Ich habe halt Ausdauer.

Kluge: Ja, genau. Und diesen Satz hatten Sie noch nicht gesprochen. Sie waren bei diesen ganzen Nebensätzen, die Sie so reingebaut haben, damit der öfter vorkommt. Und die glaubten Ihnen jetzt nicht, dass Sie krank seien?

Schlingensief: Nein, die glaubten der Regieassistentin nicht. Die ging raus und sagte: Meine Damen und Herren, Fortinbras-Darsteller Schlingensief wird jetzt nicht mehr kommen, er bekam eine schwere Allergie, wir beten für ihn, lassen Sie uns innehalten und so weiter. Dann kam sie wieder und sagte: Die glauben mir nicht. Danach habe ich mich aufgerafft und bin mit der Spritze und den Tavegil-Ampullen als Beweismittel nach draußen und habe das gezeigt, da lachten einige Leute, und ich sagte: Es ist wirklich ernst und so weiter. Ich bin dann nach vorne und habe die erste Reihe fühlen lassen. Das war dann wieder erstaunlich, dass die dann spontan da draufgepappt haben (er haut mit der rechten Hand auf seinen linken Unterarm), während die Mitarbeiter hinter der Bühne, wo die Allergie ausbrach, die gingen alle so einen Schritt zurück: Was ist denn das, was hast du denn da?

Kluge: Lepra. Jesus darf so etwas anfassen, aber nicht ein normaler Mensch.

Schlingensief: Ja, genau und unten im Publikum: sofort betatschen. Dann habe ich hier noch gezeigt und da noch gezeigt und habe dann die Abstimmung machen lassen: Wer hat es wirklich geglaubt und wer nicht? Was kann Theater noch leisten? Ist Theater in der Lage, eine gewisse Form von Wahrheit zu vermitteln, wenn ja, welche Wahrheit?

Kluge: Können sie einen Schauspieler ernsthaft entlassen aus dem Bühnenstück, wenn er gequält ist? Wenn es eine Folter wird? Kann man das?

Schlingensief: Ja. Dann wurde abgestimmt. 20 Leute haben gesagt, sie haben es geglaubt, und ungefähr 400 bis 500 Leute haben gesagt: Nein, das haben wir nicht geglaubt.

Kluge: Was haben Sie gemacht?

Schlingensief: Dann habe ich eben noch einmal vorne herumgezeigt und gefragt: Ist das echt? Ja, das ist echt. Ich bin durch die Reihen und habe ein paar Leute umarmt und gesagt, es kann sein, dass es ein Virus ist, der kann tödlich sein, es kann auch eine Infektion sein oder sonst etwas in der Richtung, wir wollen nicht das Schlimmste hoffen, aber ich gebe ihn gerne weiter, tragen Sie ihn hinaus, dann nehmen Sie wenigstens etwas aus dem Theater mit. Das ist ja die große Sehnsucht von uns Regisseuren, dass wenigstens etwas nach draußen kommt.

Kluge: Eine kleine Infektion.

Schlingensief: Ja.

Kluge: Kann alles passieren. Ein Sänger kommt von São Paulo und bricht auf der Bühne zusammen, wird gerettet von Ärzten, durch den Zuschauerraum getragen – und die Stadt ist krank.

Schlingensief: Ja, so ist es.

Kluge: Umgekehrt kann man aber sagen, dass jemand, der so häufig stirbt, wie Sie jetzt gestorben sind in dieser Woche, eigentlich überhaupt nicht sterben kann.

Schlingensief: Unsterblich ist.

Kluge: Denn irgendwie ist es ein Gegengift, auch als Impfstoff.

Schlingensief: Ich glaube das tatsächlich auch. Ich glaube, es gibt tatsächlich so Kanten, da ist man wirklich in einem Moment hochgradig gefährdet. Das kennt man aus der Politik, das kennt man im Privatleben, das kennt man bei Hausfrauen, die plötzlich aus irgendeinem lächerlichen Anlass eine Zweistufenleiter hochsteigen, um mit einem Staubtuch oben so zu machen (macht die Handbewegung des Staubwischens), stürzen und haben einen Genickbruch. Kann alles passieren. Der Mensch bewegt sich meistens auf sehr sicherem Terrain, und er merkt aber auch, wir verlernen es leider durch die vielen Abwechslungen und Ablenkungen, es gibt die Augenblicke, wo plötzlich dieser Moment kommt, und ich merke: Jetzt ist es auf Messers Schneide, und dann, ich weiß nicht, ob man dagegenhalten kann.

Kluge: Nein.

Schlingensief: Ich glaube nicht. Man muss balancieren, und ich glaube, sobald man akzeptiert, dass man balanciert, hat man schon wieder einen Schritt ins Leben geschafft. Wenn man nämlich nicht bereit ist zu balancieren und sagt, ich will meine Sicherheit, setzt man sich auf den Arsch und wird in zwei Scheiben geschnitten auf dem Messer. Das ist ein Problem. Man muss darauf balancieren. Es ist schmerzhaft, und dann kommt man auch plötzlich wieder mit einem Fuß ins Leben rein, und dann hat man wieder ein bisschen Zeit bis zum nächsten Abenteuer.

Kluge: Nennt man das die Bühne des Lebens?

Schlingensief: Das ist die Bühne des Lebens. Die verlangt ja diese Spannung, die man sich auf der Bühne gerne erzeugt, die aber leider nicht immer kommt und die ich dann in meinen Arbeiten auch versucht habe durch äußere Einflüsse ins Theater reinzuholen oder rauszugehen. Also Bernhard Schütz, mit dem ich viel arbeite, der den Kanzler gespielt hat, sagt immer: Wir brauchen äußere Spannungsfelder, wir haben ein Recht auf eigene Bilder, wir müssen rausgehen, müssen sammeln und müssen das zurücktragen wieder in die Fabrik Theater, so ungefähr. Und diese Versuchsanordnung Theater finde ich auch richtig. Jetzt wollte ich mit dem neuen Stück „Rosebud“ an der Volksbühne, wo ich das Leben eben so authentisch auf die Bühne gebracht hätte, wie ich es mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt hätte auf der Documenta, denn bei anderen Aktionen bin ich ja weggelaufen. Wenn es schlimm wird, dann sage ich „Kunst“, das ist Kunst, meine Herrschaften. Liebe Kriminalpolizei, lieber Staatsanwalt, das ist doch Kunst, dann kann ich meistens auch wieder nach Hause gehen, meistens, manchmal muss ich auch noch eine Nacht bleiben, aber alles in allem wäre mit diesem Schuss eine solche Realität in mein Stück reingeknallt?...

Kluge: …wenn Sie abgedrückt hätten bei dem Jagdgewehr.

Schlingensief: Ja. Das wäre natürlich unglaublich gewesen, und genau das in einem Stück, wo ich mir vorgenommen hatte, nämlich nicht diese Ebene zu betreten, die ich sonst betrete, zu sagen: Ich mache das Fenster auf, ich hole die Obdachlosen, oder lass uns jetzt gegen die Regierung, gegen den Helmut Kohl, die Neonazis oder was weiß ich angehen, sondern wirklich ein Stück schreiben, das fast immanent auf die Bühne bringen und das nur für die Bühne machen. Natürlich passierte dann auch das, dass die Kritiker drin saßen und fast durch die Bank alle meinten: Er hat nicht provozieren können. Es war keine Provokation. Es ist aber ein Tragödienstoff. Ich habe die Geschichte…

Dieses Gespräch wurde am 5. Mai 2002 erstmals im Fernsehen ausgestrahlt. Weitere Gespräche zwischen Alexander Kluge und Christoph Schlingensief finden Sie auf www.dctp.tv