USA

New Jersey – ein Staat im Morast des Verbrechens

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Uwe Schmitt

Foto: AP

Korruption, Organhandel, viele Festnahmen: Wieder einmal kommt eine solche Meldung aus dem US-Bundesstaat New Jersey und entspricht genau dem Klischee. Die Bewohner haben sich an den schlechten Ruf der Region als Hort des Verbrechens gewöhnt. Zahllose Skandale und eine TV-Serie haben ihn zementiert.

Nicht einmal ihr Mangel an Erstaunen erstaunte die Bürger von New Jersey noch, als sie am 23. Juli wieder einmal Zeuge einer Massenverhaftung von Politikern und Beamten unter Korruptionsverdacht wurden. Diesmal waren es 44 Männer, darunter drei Bürgermeister, zwei Landtagsabgeordnete und, leicht exotisch, fünf orthodoxe Rabbiner unter dem Verdacht von Geldwäsche und Organhandel, die dem FBI ins Netz gegangen waren. In Manhattan höhnten sie von „Kosher Nostra“ und „Dirty Jersey“. Denn dies war nur die frische Beute von mehr als 150 nachweislich korrupten Würdenträgern im vergangenen Jahrzehnt. In New Jersey leben heißt leiden lernen.

In der übrigen Nation mochten sich noch manche fragen, was man den Leuten in Jersey eigentlich ins Trinkwasser mischt. Amerika traut dem Staat zwischen New York City und Philadelphia schon lange alles zu, schlechten Geschmack, lausige Manieren, miese Geschäfte. Und die Jerseyites enttäuschen nicht und fügen sich achselzuckend in ihre Karikatur. Lokale Helden, Frank Sinatra aus Hoboken und Bruce Springsteen aus Ashbury Park, schaffen kaum Linderung des Komplexes.

Das akademische Renommee von Princeton und Rudgers bleibt die Ausnahme. New Jersey bleibt der schräge Parvenü, wo dem Klischee zufolge ganze Städte italienisch sprechen, Frauen mit aufgetürmten 80er-Jahre-Frisuren herumstaken, Öl-, Gas- und Pharma-Tanks als Sehenswürdigkeiten entlang der Autobahn Spalier stehen – wo endlich auf Parkplätzen und in fettigen „Diner“-Kneipen Umschläge mit Bargeld von Hand zu Hand gehen.

Benjamin Franklin (1706–1790), einer der vornehmsten Gründerväter der Vereinigten Staaten, rühmte den Staat als „Tal der Bescheidenheit zwischen Bergen des Hochmuts“. Doch seine Verachtung für die Hochburgen der Arroganz New York und Philadelphia trug den Keim des Komplexes in sich. New Jersey wurde und blieb ewig Zwischenlager, Mautstation, Durchlauferhitzer für jene, die in den beiden Metropolen Geld und Ruhm erwerben.

Parmaschinken ohne Brot

Fair ist das nicht im Geringsten. Denn ein guter Teil des „Garden State“ – niemand weiß mehr genau, wie Jersey zu diesem sich nicht aufdrängenden Namen kam – ist herrliche Küste, Naturschutzgebiet sogar, atlantisches Idyll. Der US-Bundesstaat mit der höchsten Bevölkerungsdichte bei 8,7 Millionen Einwohnern könnte stolz sein auf seinen Rang in der Union: New Jersey hat (nach Maryland) das zweithöchste Durchschnittseinkommen, die meisten Millionäre, eines der – nachprüfbar – erfolgreichsten Bildungssysteme. Die halbe Wall Street lebt herrlich in ihren schmucken Küstenstädten und fällt morgens mit Zug und Fähren nach Manhattan ein. Trotz alledem wird New Jersey sein schäbiges Image nicht los.

Tony Soprano, der kleinbürgerliche, depressive Gangsterboss mit der schweren Kindheit und der überfordernden Familie, konnte nur aus New Jersey stammen. James Gandolfini gab Tony Züge, die ihn noch beim Morden gemütlich und seltsam schicksalsergeben wirken lassen. Als könne ein Italiener in Jersey nicht anders, als im „Bada Bing“ den Stripperinnen müde auf die verbogene Nacktheit starren, Parmaschinken ohne Brot in sich hineinstopfen und im Bademantel die Zeitung von seiner Villeneinfahrt auflesen.

Von 1999 bis 2007, genau 86 Mal, glitt Tony Soprano im Vorspann zu dem hinreißenden Titelsong aus dem Lincoln Tunnel in seine Welt des New Jersey Turnpike. Es ist einer der verhasstesten und hässlichsten Autobahnabschnitte der USA, der allein New York City und Baltimore verbindet. Tony mit Zigarre fährt wie im Schlaf, Jerseys „landmarks“ ziehen vorüber, die Gastanks, die Hochhäuser, Newark International Airport.

Nostradamus mit Quasimodo verwechselt

In den ersten Jahren tauchten für einen Augenblick die Türme des World Trade Center hinter Tonys Wagen auf. Bis man sie, einige Trauerzeit nach „9/11“, gnädig herausschnitt. Tonys Dienstfahrt endete vor seiner Vorortvilla, die ihm Respektabilität verlieh. Solange man nicht auf die Observierungsteams der Polizei achtete, die vor dem Grundstück parkten.

Tony Soprano war umgeben von Mittelmäßigkeit, und er wusste es. Immer wieder verbesserte er seine wütenden Leute, die Nostradamus mit Quasimodo und „hunchback“ mit „quarterback“ verwechselten. Großkotzige Dummheit war Tony ein Gräuel. Er verstand es schließlich manierlich, mit seiner Therapeutin zu parlieren, seinen Panikanfällen und der Hassliebe für seine Mutter Livia nachzuspüren.

Auch er hatte enge Bildungsgrenzen; berühmt wurde sein verballhorntes Sprichwort über die Rache: „Revenge is a dish best served cold“ lautet es, Rache ist ein Gericht, das man am besten kalt genießt. Er machte daraus „Revenge is like serving cold cuts“ (Rache ist wie Aufschnitt servieren), und niemand verbesserte ihn. Typisch Mobster, typisch New Jersey, freuten sich die Fans.

Tony Soprano kommt mit dem Leben davon.

Die Serie „The Sopranos“ von David Chase enthält viele Verneigungen vor der Trilogie des „Paten“ und Widmungen zu Martin Scorseses „Goodfellas“. Auch die Familie Don Corleones wusste New Jersey zu schätzen, vor allem im letzten Teil die Spielcasinos in Atlantic City. Und sie werden Opfer des New Jersey Turnpike. Nicht seiner berüchtigten Staus und Unfallserien. Sondern seiner Mauthäuschen. An einem solchen Zwangsstopp wird einer der Söhne des Paten erschossen. Die Corleones hatten genug Klasse, um in New York City Bandenkriege zu gewinnen. Tony Soprano muss sich mit der provinziellen Ausgabe des Paten begnügen. Dafür kommt er mit dem Leben davon.

Die Festnahme der 44 Verdächtigen, die aus zwei zunächst unverbundenen Fahndungssträngen des FBI zusammenkamen, geht auf Salomon Dwek zurück. Der Sohn eines Rabbiners war 2006 wegen Betrugs auffällig und vom FBI zum Informanten gewendet worden. Dwek zog mit seinem Aufnahmegerät zunächst in die Kreise der orthodoxen Juden, die gegen eine bescheidene Gebühr in ihren karitativen Organisationen Millionen Dollar wuschen.

Den Organhandel mit Israel (160.000 Dollar für eine Niere; 10.000 davon für den Spender) organisierte ein Mann aus Brooklyn. Deshalb, schrieb die satirisch begabte Kolumnistin Gail Collins, habe es auch jahrelang funktioniert. In New Jersey bringe man so etwas nicht zustande. Salomon Dwek stieß bald auch auf Politiker, die sich für ein Taschengeld kaufen ließen.

"Ich würde jede Wahl gewinnen"

Nicht nur korrupt, sondern auch noch Ramschware: 2500 bis 5000 Dollar war den meisten das Risiko wert. Peter Cammarano (32) war erst Wochen zuvor als Bürgermeister von Hoboken eingeschworen worden. Bei einem Jahresgehalt von über 100.000 Dollar setzte er alles für ein Handgeld von 25.000 aufs Spiel. „Ich würde jede Wahl gewinnen“, prahlte er, „selbst, äh, wenn ich angeklagt würde.“

Die ersten Korruptionsfälle in New Jersey gehen zurück auf die 1870er-Jahre. Politiker siegten als Korruptionskammerjäger und erlagen mit geisterhafter Regelmäßigkeit der Versuchung. Es heißt, die Autonomie und Armut, 566 Gemeinden, viele mit kaum arbeitsfähiger Verwaltung, verführten zur Korrumpierbarkeit: Viel Macht ohne Mittel für Baugenehmigungen und Konzessionen, lächerliche Gehälter für Beamte, ob kleine Bürgermeister oder Lebensmittelinspektoren, zögen die Bestechungsgelder unvermeidlich an.

Dazu kämen ein seit einem Jahrzehnt blühender Bauboom und die unaufhaltsame Alleinherrschaft der Demokratischen Partei in der lokalen Politik. New Jersey ist einer der teuersten Anzeigenmärkte für Präsidentschaftskandidaten und andere für Bundesämter kandidierende Politiker. Sie müssen den New Yorker Markt und jenen von Philadelphia abdecken. Das kostet Unsummen. Und es zieht allerlei Gestalten an, die Gefallen gegen Geld verlangen. „Ich bin weder Republikaner noch Demokrat“, witzelte Salomon Dwek, „ich bin Grüner.“ Grün wie die Farbe des Dollar. Was haben sie gelacht.

Wie geht es weiter in New Jersey? Die Korruption, vermuten Skeptiker, wird in einen tieferen Untergrund abgedrängt. Der Organhandel, eine tödliche Ungerechtigkeit etwa für die 80.000 Amerikaner, die heute dringend eine Spenderniere suchen, wird sich hinzugesellen. Manche schlagen vor, man solle Undercover-Integritätstests einführen, wie sie in New York City üblich und erfolgreich sind. „Es hätte alles schlimmer kommen können“, notierte Gail Collins, den Bürgern von New Jersey zum Trost: „Wenigstens hat der Bürgermeister von Hoboken sich nicht für 2500 Dollar kaufen lassen. Und, nach letzten Berichten, hat jeder noch seine Nieren.“