Nachdem auch die vierte Sonne - man könnte auch Zeitalter sagen - untergegangen war und mit ihr die Menschheit, die sich einmal mehr als unzulänglich erwiesen hatte, wussten die Götter nur noch einen Rat.
Einer von ihnen sollte sich ins Feuer stürzen, um mit seinem Opfer eine letzte, fünfte Sonne hervorzubringen. Ausgerechnet dem Schwächsten von ihnen gelang es. Er wurde zur Sonne, doch sie verharrte an ihrem Platz. Erst als auch die anderen Götter sich in den von ihnen entzündeten Scheiterhaufen warfen, kam Bewegung in die Welt. Es wurde die unsere. Der Ort aber, an dem dies geschah, war Teotihuacan, der "Ort, an dem die Menschen zu Göttern werden".
So nannten 700 Jahre nach ihrem Untergang die Azteken in ihrer Sprache diese geheimnisvolle leere Stadt, deren riesige Ruinen sich fünfzig Kilometer nördlich von dem See erhoben, in dem sie ihre Metropole auf einer Insel errichteten, auf dem heute Mexiko City liegt. Und obwohl sie sich Erinnerungen an ihre Wanderungen bewahrt hatten und wussten, dass ihre Heimat fern im Norden gelegen hatte, gaben sie sich alle Mühe, ihre Ursprünge in Teotihuacan zu suchen. Ja, sie scheuten sich nicht, dessen Trümmer nach Zeugnissen abzusuchen, die sie in das Heiligste ihrer eigenen Tempel schafften. Denn die Azteken - wie alle anderen Völker Mittelamerikas seit dem Fall von Teotihuacan, hatten eine Vorstellung davon, wie sehr ihr Wissen und ihre Kulturen abhingen vom Opferplatz der Götter.
Geheimnisvolle Ruinenstadt
Sehr viel weiter sind wir heute im Grunde auch nicht. Wenn die große Ausstellung über Teotihuacan, die von heute an im Martin-Gropius-Bau gezeigt wird, im Untertitel "Mexikos geheimnisvolle Ruinenstadt" heißt, ist das eigentlich eine groteske Untertreibung. Denn wir wissen nicht, woher ihre Gründer kamen, welches Idiom sie sprachen, wer die Herrscher waren und warum sie ihre Stadt nach Jahrhunderten glänzenden Wachstums verlassen haben. Von 100 bis 650 n. Chr. existierte die mit bis zu 200.000 Einwohnern wohl größte Stadt, die die westliche Hemisphäre vor Ankunft der Europäer hervorgebracht hat. Und dennoch wissen wir nichts über ihre politische Geschichte, die Grenzen ihrer Macht, kennen nicht einmal ihren wirklichen Namen. Nur eines ist sicher: Ohne Teotihuacan sähe Mexiko völlig anders aus, als wir es kennen. Denn es prägte seine Kultur wie keine andere Siedlung zwischen dem Rio Grande und der Landenge von Panama.
So ist es kein Wunder, dass die Vereinigten Mexikanischen Staaten zur 200-Jahr-Feier ihrer Unabhängigkeit mehr als 450 Objekte auf den Weg gebracht haben, um die seit 1987 auf der Welterbeliste der Unesco geführte Ruinenstadt in Deutschland vorzustellen. Das reicht von tonnenschweren Architekturelementen vom Tempel der Gefiederten Schlange bis zu winzigen Schmuckstücken aus Jade. Vor allem aber werden neueste Funde und Rekonstruktionen ausgestellt, die uns erstmals eine Ahnung davon geben, was der "Ort, an dem die Menschen zu Göttern wurden" vielleicht gewesen sein mag.
Zeugnisse über die Kultur fehlen
Teotihuacan bietet vielleicht das krasseste Beispiel dafür, was die Archäologie zu erklären in der Lage ist - wenn ihr schriftliche Zeugnisse fehlen. Da es aber zur gleichen Zeit in benachbarten Gebieten durchaus leistungsfähige Schriftsysteme gab, ja in Teotihuacan selbst die Anwesenheit von Schriftbesitzern wie den Maya einigermaßen sicher nachgewiesen werden konnte, wurde im Umkehrschluss gefolgert, dass der Verzicht auf die Schrift Ergebnis einer bewussten Entscheidung gewesen ist: Man wollte keine Überlieferung, also subjektive Deutung des Gegenwärtigen durch die Vergangenheit.
Diesen Gedanken weitergesponnen, taten sich um 100 n. Chr. Migranten, möglicherweise auf der Flucht vor Vulkanausbrüchen, zusammen, um ein ideales gesellschaftliches Experiment zu wagen: Sie gründeten eine Stadt, die schließlich aus rund 2200 Wohnkomplexen bestand, deren bis zu 200 Räume von jeweils vielleicht hundert Menschen bewohnt wurden.
Jeder vierte Teil der rasterförmig angelegten Stadt unterstand danach einem Fürsten, der seine Autorität gleichsam anonymisierte, wie die Tausende gefundenen Statuetten immer nur das gleiche Gesicht mit den stets gleichen Zügen zeigen. Ihr Meisterstück machten die Träger dieser Zivilisation, als sie, das Ende dieses Konsens' erkennend, ihre Stadt einem rituellen Feuer überantworteten - und sie für immer verließen.
Der Mensch, der zum Opfer bestimmt war
Manche Deutungen, die die Beiträge des schönen Kataloges wagen, setzen auf die Erfahrungen der konventionellen Anthropologie. Danach war die Gründung von Teotihuacan ein Ergebnis von Wanderungsbewegungen, deren Träger in diesem Teil Zentralmexikos vor knapp 2000 Jahren ziemlich gute Lebensbedingungen vorfanden. Es gab ausreichend Niederschläge und - vor allem - einen Fluss, den die Siedler kanalisierten und durch ihre Stadt leiteten. Eines der eindrucksvollsten Objekte der Ausstellung ist die rekonstruierte, beinahe lebensgroße Skulptur eines Menschen, der zum Opfer bestimmt war. Wahrscheinlich schmückte er einen Tempel.
Die Archäologen sind sich sicher, dass er in zahllose Stücke zersprang, als jener Opfer eines Feuers wurde, das vermutlich nicht von Feinden, sondern von den Einwohnern selbst gelegt wurde. Sie verließen innerhalb kurzer Zeit ihre Stadt, das ist sicher.
Aber warum? Weil ihre ausgelaugten Böden nichts Essbares mehr hergaben, weil ihr Tribut-Imperium zerbrach, weil das gesellschaftliche Gleichgewicht aus den Fugen geriet, das Klima sich änderte oder gar ihr Kalender den Untergang der Welt vorhersagte? Wir werden es kaum je erfahren. Und so steht Teotihuacan als Chiffre für die ewige Frage, bis zu welchen Grenzen menschliche Zivilisationen aufbrechen wollen - und können.
Martin-Gropius-Bau , Niederkirchnerstr. 7, Kreuzberg. Tel. 254 860. Bis 23. Juli: tgl. 10-20 Uhr. Ab 24. Juli (bis 9.8.): tgl. 10-22 Uhr. Katalog: 35 Euro. Bis 10. Oktober.