Ursprünglich sollten alle Anwohner des BER gegen Lärm geschützt werden. Weil die Kosten dafür jedoch zu hoch liegen, werden bei mehr als jeder zweiten Wohnung keine ausreichenden Maßnahmen umgesetzt.
Es war ein Urteil, das viele Anwohner des künftigen Hauptstadtflughafens zunächst aufatmen ließ: Im April hatte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg entschieden, dass die Fughafengesellschaft die Anwohner besser vor Lärm schützen muss, als bisher geplant war. Doch nun zeichnen sich die Folgen des Urteils in konkreten Zahlen ab: Bei mehr als jeder zweiten Wohnung können keine ausreichenden Schutzmaßnahmen gegen Schall umgesetzt werden, weil die Kosten dafür vermutlich höher liegen werden als 30 Prozent des Verkehrswertes der Häuser. Das geht aus einer Ausschreibung für den anstehenden Gutachten-Marathon im Europäischen Amtsblatt hervor.
Demnach gehen die Flughafenbetreiber davon aus, dass 5300 Häuser neu bewertet werden müssen, bei denen die Schutzvorgaben nicht vollständig umsetzbar seien. Gerechnet nach Wohnungen sind damit 8500 der insgesamt 14.000 Wohnungen in dem Schutzgebiet betroffen. Die Eigentümer sollen stattdessen den „bis zu dieser Kostengrenze möglichen Schutz“ erhalten. Das bedeutet: auch wenn die Bestimmungen zum Schallschutz nicht erfüllt werden, bieten die Flughafenbetreiber dennoch Dämmplatten und Lärmschutzfenster an. Ein Kompromiss, auf den sich Betreiber und Bürgermeister im Umland kürzlich einigten.
„Anwohner müssen mit Entschädigungen vorliebnehmen“
Flughafen-Chef Hartmut Mehdorn sagte bereits nach der Urteils-Verkündung im April, dass die Forderungen des Gerichts in weiten Teilen lärmphysikalisch nicht umsetzbar seien. „Es hat zur Folge, dass für viele Anwohner gar keine Schutzmaßnahmen realisiert werden können, sondern sie mit Entschädigungen vorliebnehmen müssen“, sagte Mehdorn. Anders als im Planfeststellungsbeschluss vorgesehen, sollen die 5300 Hausbesitzer inzwischen aber nicht mehr Bargeld von der Flughafengesellschaft erhalten, sondern Kostenerstattungen. „Lieber baulichen Schallschutz statt dicke Autos“, sagte dazu der Bürgermeister von Blankenfelde-Mahlow, Ortwin Baier (SPD). „Manchmal muss man die Leute vor sich selber schützen,“ so der SPD-Politiker weiter.
Die Betreiber gehen davon aus, dass es acht Monate dauert, alle Gutachten zu erstellen. Der Vertrag mit dem Gutachter-Unternehmen soll laut Ausschreibung im Europäischen Amtsblatt Ende 2014 auslaufen – gut drei Jahre nach dem ursprünglich geplanten Eröffnungstermin für den Flughafen.
Bürgerinitiative ist empört
Für den Schallschutz waren ursprünglich 139 Millionen Euro veranschlagt, nach dem OVG-Urteil könnte das Programm nach früheren Schätzungen des Aufsichtsrats nun bis zu 730 Millionen Euro kosten.
Kritiker sagen, die Betreiber hätten das Lärmschutzprogramm aus Kostengründen klein gehalten. So geht man bei der Friedrichshagener Bürgerinitiative davon aus, dass diese Taktik weiter verfolgt werde: „Sie lassen keinen Trick ungenutzt, um so billig wie möglich wegzukommen“, sagte Ralf Müller, ein Sprecher der Initiative, der Berliner Morgenpost am Sonnabend.
Christoph Schulze wittert bewusste Täuschung
Müller verweist darauf, dass im Planstellungsverfahren vor zehn Jahren eine Lärmbelastung von 90 Dezibel durch Flugzeuge veranschlagt worden sei, inzwischen aber von 104 Dezibel die Rede sei. „Der Flughafen soll erklären, woher die erhöhten Maximalpegel herkommen, die nicht im ersten Planfeststellungsverfahren genannt wurden.“ Müller vermutet, dass schlicht nicht mit den Langstreckenfliegern gerechnet worden sei, die ein internationales Drehkreuz anfliegen, wie es der BER erklärtermaßen werden soll. „Der Flughafen ist nicht in der Lage, die Häuser gegen ein internationales Drehkreuz mit vielen lauten Langstrecken zu schützen.“
Auch der Landtagsabgeordnete Christoph Schulze, der über die BER-Debatte die SPD-Fraktion verließ, sieht das so: „Die Katze ist aus dem Sack“, sagt Schulze. Er wirft den Betreibern vor, mit den Lärmzahlen absichtlich getäuscht zu haben.
Auch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg wirft den Betreibern des BER vor, die Regeln zum Lärmschutz systematisch verfehlt zu haben – die greifen indessen allerdings das Urteil per Nichtzulassungsbeschwerde an – „aus haftungsrechtlichen Gründen", wie die Betreiber zuletzt betonten.