Integration

Mentoren führen Hauptschüler in den Beruf

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Annika Bunse

In Berlin-Neukölln bekommen Schüler zum Berufsstart Mentoren an die Seite gestellt. Das Projekt erweist sich als Erfolgsmodell.

Özlem wartet auf Sabine Kray am Körnerpark in Neukölln. Es ist kalt. Die 18-Jährige mit den langen schwarzen Haaren und dem glitzernden Nasenstecker fröstelt. Dann fährt das Taxi vor. Eine Frau mit eleganter Handtasche steigt aus und begrüßt Özlem mit einer Umarmung. Sabine Kray entschuldigt sich für ihre Verspätung. Sie komme gerade vom Prenzlauer Berg, und da seien die Straßen zur Mittagszeit immer so voll. Özlem nickt verständnisvoll.

Zwei Welten sind es, die hier aufeinandertreffen – aber hervorragend miteinander korrespondieren. Sabine Kray ist die Mentorin von Özlem Arslan. Sie ist 27 Jahre alt, arbeitet als freie Autorin und Übersetzerin – und als Mentorin für das Mentorenprojekt der Bürgerstiftung Neukölln. 70 Ehrenamtliche offerieren in diesem Rahmen Neunt- und Zehntklässlern eine Eins-zu-Eins-Betreuung. Das Ziel: Unterstützung in allen Lebenslagen bieten und Hilfe zur Selbsthilfe. „Das ist eine ganz neue Erfahrung für die meisten Jugendlichen mit Problemhintergrund“, sagt die Koordinatorin des Projekts, Ursula Rettinger.

Sie gibt Tipps und macht Mut

Özlem konnte sich schnell mit dem Konzept anfreunden. „Ich wusste gleich: Das ist das Richtige für mich“, sagt sie, während sie neben Sabine Kray durch den Park geht. Auch von ihrer Mentorin habe sie sofort einen positiven Eindruck gehabt. Heute sei sie fast wie eine zweite Mutter, mindestens aber wie eine große Schwester für sie. Özlem will von ihr lernen – während Sabine Kray etwas von dem weitergeben will, was ihr im Leben Gutes widerfahren ist. Eine Win-Win-Situation.

Die Arbeit der Mentoren ist auf zwei Jahre angelegt. Sie soll der Begleitung während der Schulzeit dienen und einen guten Übergang ins Berufsleben ermöglichen. So wie bei Özlem. Sie ist Zahnarzthelferin im zweiten Lehrjahr. Schon während der Zeit an der Kepler-Schule konnte Özlem mit Sabine Kray an ihrer Seite ihre Noten deutlich verbessern. Nach dem Schulabschluss übte Sabine Kray mit ihr die Situation in einem Bewerbungsgespräch. Besonders gut fand Özlem, dass Sabine Kray mit ihr zu einer befreundeten Fotografin fuhr, um Bewerbungsbilder machen zu lassen. „Du sahst darauf richtig schön aus“, erinnert sich die Übersetzerin. Özlem errötet ein wenig: „Ja, das haben alle gesagt. Das hat mir irgendwie Mut gemacht. Deshalb hab’ ich die Lehrstelle auch gekriegt, glaube ich.“

Özlems Geschichte ist kein Einzelfall. Das Mentorenprojekt gilt als Erfolgsmodell. „In der ersten Abschlussklasse mit integriertem Mentoring haben 2009 vier Schüler den Hauptschulabschluss und sogar acht den Mittleren Schulabschluss geschafft“, sagt Wolfgang Lüdke. Er ist Rektor der Kepler-Schule, an der die Bürgerstiftung ihr Mentorenprojekt gestartet hat, und staunt immer noch über das gute Ergebnis: „Damit ist der Anteil der Schüler mit Abschluss von 15 auf 64 Prozent gestiegen.“ 2010 hätten 20 Schüler ihre Zeugnisse mit erweitertem Schulabschluss entgegennehmen können. „Das Mentorenprojekt bietet Zukunft, so viel ist klar“, sagt Lüdke.

Ein Beitrag zum interkulturellen Austausch

Doch nicht nur in Sachen Bildung und Ausbildung zeigt die Initiative Nutzen. Sie leistet auch einen Beitrag zum interkulturellen Austausch und gibt den Schülern Selbstbewusstsein. So erzählt Hauptschülerin Anita Imsirovic (18), dass sie in Amerika aufgewachsen ist und ohne Deutschkenntnisse nach Berlin kam. Ihre Mentorin Sina fing sie auf, übte mit ihr Deutsch und sprach mit ihr über Probleme. „Sie ist nicht nur meine Mentorin. Sie ist wie meine Schwester“, sagt sie bestimmt. „Ich kann etwas von ihrer Kultur lernen und sie von meiner.“ Die 17-jährige Martina Balaci berichtet, dass ihre Mentorin Gisela sie sogar einmal zum Weihnachtsessen eingeladen habe. Das habe sie bis dahin noch nicht gekannt und sich sehr geehrt gefühlt. „Ich will mich gut integrieren können“, sagt Fußballfan Umut Yilmaz (17). Sein Mentor Florian hilft ihm, wo er kann – auf und neben dem Platz.

Özlem hat es sich mit Sabine Kray mittlerweile im Café gemütlich gemacht. Während sie vorsichtig Zucker in ihren Milchkaffee schüttet, erzählt sie, dass sich nun auch ihre kleine Schwester eine Mentorin wünsche. Nach der Kaffeepause streifen die beiden durch die Galerie im Körnerpark und betrachten Fotografien. „Die kenn’ ich. Die ist aus meiner Schule“, sagt Özlem und zeigt auf ein Bild. Sie führt durch die Ausstellung. Sabine Kray folgt.

Özlems Entschlossenheit habe sie von Anfang an beeindruckt, sagt Sabine Kray. Sie habe immer auf eigenen Füßen stehen wollen, ihr eigenes Geld verdienen, Verantwortung für ihr Leben übernehmen. Nur wie das gehen sollte, sei ihr nicht klar gewesen. Die beiden wollen sich auch in Zukunft treffen. Mit Sabine könne sie alles schaffen, was sie sich vornehme, sagt Özlem.

Die Nachfrage steigt

Gefunden haben sich über das Mentorenprojekt bereits 32 Paare, die sich mindestens einmal pro Woche treffen. Friedemann Walther, Vorsitzender der Bürgerstiftung Neukölln, wünscht sich eine Ausweitung des Mentorings auf andere Schulen. Bezirksstadträtin Franziska Giffey unterstützt ihn: „Die Bürgerstiftung spielt eine herausragende Rolle in Neukölln. Kinder aus Familien, bei denen Hartz IV Lebensrealität ist, bei denen die Eltern ihren Kindern kein geregeltes Leben vorleben können, werden durch Mentoren aufgefangen.“ Allerdings seien dringend neue Mentoren und finanzielle Mittel notwendig, um das Projekt am Leben zu erhalten, sagt Ursula Rettinger. Schon jetzt seien sie und ihr Team mit der Arbeit mehr als ausgelastet, während die Nachfrage nach Mentoren steige. Bislang wurde die Initiative größtenteils durch Mittel des Europäischen Sozialfonds finanziert; seit 2010 wird sie auch vom Lions Club Berlin-Wannsee gefördert.

Sabine Kray begleitet Özlem noch zur nächsten S-Bahn-Station. Dabei denken die beiden über die Zukunft nach. Krankenschwester, das sei auch ein schöner Beruf, überlegt Özlem laut. Mehrfach klingelt ihr Handy: Özlems Freund wartet schon ungeduldig auf sie. Sabine Kray hingegen wartet geduldig, bis Özlem wieder auflegt. Dann verabschieden sich Mentorin und Mentee voneinander. Sabine Kray schaut Özlem noch lange nach. Aus einem schüchternen Mädchen sei eine selbstbewusste junge Frau voll klarer Prinzipien und mit vielen Ideen geworden, sagt sie. „Ich habe den Weg dahin gern begleitet. Aber letztlich war es Özlem, die ihr Leben großartig in die Hand genommen hat. Ich bin sehr stolz auf sie.“