Hinter der Tür zur Umkleide werden die kleinen Mädchen ganz groß. Mit ernster Miene binden sich da Vier- und Fünfjährige die Haare zum Zopf, justieren sie mit Stirnfalte ihre Tüllröckchen und - "Papa, bitte!" -, schmeißen alle Kerle raus, die so kurz vor Beginn der heutigen Ballettstunde noch meinen, ihnen helfen zu müssen.
Für das putzige Dutzend, das darauf hinaus zu Tanzstange, Parkett und Spiegel strömt, sind diese 60 Minuten zwischen Anmut und Disziplin der allwöchentlich ersehnte Ausflug in die Erwachsenenwelt. Eine Stunde Gänsehaut.
Paulina, Helen, Emmylou, Sophie-Marie und die anderen Mädchen mit ihren merkwürdig-modernen Namen nehmen Platz zu Füßen ihrer Lehrerin. Apart, grazil und zugleich erfüllt von großer Energie hat in ihrer Mitte Franziska Meinicke-Rengger (34) Position bezogen, ein stetes Lächeln auf den Lippen, das mild und stark zugleich wirkt. Die Kinder dürfen sie duzen. Die meisten Eltern siezen sie.
Während sich die Mädchen nun zu Mozart-Klängen erheben, um in einer Reihe mit Trippelschritten den Raum zu durchlaufen, lehnen sich jenseits einer wandhohen Scheibe die Zuschauer im angrenzenden Zimmer auf ihren Stühlen zurück. Einzig ein Vater ist unter ihnen. Neben ihm liest eine Mutter ihrem Sohn aus einem englischen Kinderbuch vor, eine Frau häkelt, die anderen schweifen von Schul- zu Kitathemen oder schauen schweigend zu.
Kerstin S. atmet durch. Alleinerziehend, 35-Stundenjob, Vollzeitmutter. Am Vormittag war die 38-Jährige mit ihrer Tochter bei der Kindervorstellung von "Dornröschen", getanzt vom Ensemble der Lindenoper. "Es war toll, die Künstler kamen anschließend heraus, ließen sich in ihren Kostümen bestaunen. Der Prinz war abgemeldet, alle wollten nur zum glitzernden Dornröschen", lächelt die gelernte Diplom-Finanzverwaltungswirtin.
Sie hat selbst ihre Ballettphase durchlebt, wenn auch erst seit dem relativ späten Alter von zwölf Jahren. Als nach "A Chorus Line" im Kinosaal das Licht wieder angegangen war, hatte sie beschlossen: "Das will ich auch." Später wechselte sie zum Lateinamerikanischen Tanz. Aber in Sachen Outfit dort stets auf aktuellem Stand zu bleiben - "es ändert sich ja alle sechs Monate die Mode" - das ging ihr zuletzt zu sehr ins Geld, und sie investierte künftig lieber in Studium und Reisen. Doch der Glaube an Tanz und Ballet blieb.
Ganz recht: Glaube. Denn trotz seiner mitunter athletischen Anmutung, seiner gelegentlichen Grenzübertritte ins pastellfarbene Wolkenreich des Kitsches, ist Ballett nicht allein Leibesübung, nicht einzig Kunst, sondern zuvorderst: Geisteshaltung. "Ballett hat eine magische Ausstrahlung", sagt Tanz-Pädagogin Meinicke-Rengger unumwunden. "Wenn da eine Tänzerin in einer Pose ausharrt, hat das für den Betrachter etwas Unnahbares."
Eine Frage der Haltung
Ballett verschaffe jungen Menschen die passende Haltung, formuliert Kerstin S. "Sie lernen, sich zu bewegen. Der sportliche Aspekt des Tanzes gibt ihnen ein besonderes Körpergefühl. Und das Wissen, über die richtige Haltung zu verfügen, verschafft Kindern und Jugendlichen zuletzt die Sicherheit, sich selbstbewusst unter Menschen zu bewegen, etwa zu wissen, was sie mit ihren Händen anstellen sollen, wo andere nervös mit den Fingern zappeln oder eine Zigarette brauchen." Ballett, das habe sie selbst erlebt, erfülle eben Körper und Seele. Da wird bei Franziska Meinicke-Rengger nicht für die Ballettschule gelernt, sondern fürs Leben.
Mutter und Lehrerin sind beste Beweise ihrer von Leidenschaft geprägten These. Kerstin S. hat sich ihre Fitness sichtlich bewahrt, Meinicke-Rengger ruht im Gespräch in sich selbst, Beine ebenso wie Hände elegant übereinandergelegt, als könne sie in dieser Pose noch stundenlang verweilen.
Seitdem sie sechs ist, gehört dem Ballett ihr Leben. Daheim in der Schweiz lehrte ihre Mutter Tanz, und noch heute, mit 65 Jahren, unterrichtet sie nahe Luzern. Franziska ging auf die Ballettberufsschule, lernte an Londons Royal Ballet School, in Birmingham, in St. Petersburg, tanzte an der Deutschen Oper. Ihr eigenes Ballett und Tanzstudio Zehlendorf gründete sie vor gut zehn Jahren, um auch in Zukunft ihrer Kunst verbunden zu bleiben, denn: "Im Gegensatz zu Schauspielern haben Ballett-Tänzer ein Verfallsdatum."
180 Schüler hat sie heute. Gewiss sei nicht jedes Mädchen dafür geschaffen. Manche mag es handfester. Ihr eigener Unterricht als Kind sei eine Oase fernab von Großspurigkeit und Grobheit gewesen, blickt Meinicke-Rengger zurück. Die Härten ihrer Kunst habe sie erst später, hinter den Kulissen der Deutschen Oper, in subtilerer Form kennen gelernt. Im Ensemble, umschreibt sie schweizerisch-zurückhaltend, seien "die Ellenbogen schon sehr aufgestellt gewesen".
So weit wie sie führt der Tanz ihre jungen Schülerinnen, die jetzt jenseits des Schaufensters mit Tüchern den staunenden Eltern entgegenschweben, nur selten. Drei ihrer Mädchen haben seit Gründung der Schule die Berufslaufbahn als Balletttänzerin eingeschlagen. Doch sieht die Lehrerin viel mehr den Weg als Ziel. "Bei mir ist Ballett eine Gesamtausbildung: Ich spanne den Bogen zu anderen Künsten, ich erzähle von Königshöfen, die wichtig waren für den Tanz, davon, wie sich ein Lied von einem Stück unterscheidet. Die Kleinen sollen Lust bekommen, sich Ballett in der Staatsoper anzuschauen - damit sie 'Schwanensee' nicht nur aus dem Barbie-Film kennen", lächelt sie.
Und die Faszination für die Schülerinnen? "Die Form, die Struktur begeistern sie: Eine Position zu sehen, zu wiederholen, zu meistern: das fesselt." Manchmal werde sie von ihren Schülerinnen gefragt, ob sie sich eigentlich diese Bewegungen irgendwann alle selbst ausgedacht habe und warum die Ballett-Begriffe wie Pas, Croisé und Tutu einer Geheimsprache für Tänzer entstammen. Immer wenn Franziska Meinicke-Rengger dann antwortet, durchschauen die Kinder ein wenig mehr diese Magie von Tanz und Kultur. Als seien sie schon groß.