Hobbys

Wenn die Organisation der Freizeit zur Mission wird

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Nicole Oppermann

Ein Küsschen für Mama, Hände waschen und noch schnell einen Apfel. Lillie (8) ist in Eile. Es ist 14 Uhr in der Nauener Vorstadt in Potsdam. Lillie kommt gerade von der Schule. Doch ihr Stundenplan geht weiter. Reitunterricht - in 60 Minuten fängt er an.

Noch genug Zeit für knapp 15 Kilometer Strecke. Trotzdem gerät Mama Carmen Bethge (45) jetzt auch in Hektik. Denn sie muss vorher noch Lillies Schwester Kira (10) bei einer Freundin abholen und sie zum Tanzunterricht bringen - auf dem Plan steht Hip-Hop. Bei Lillie Pferd Pedro. "Den mag ich am liebsten", sagt sie. Carmen quetscht Lillies Gerte und Helm in eine Tasche. Die Reitstiefel zieht das Mädchen gleich an. Jetzt noch schnell einen Zopf binden.

Freizeitstress bei Familie Bethge. Lillie und Kira haben viele Hobbys. Lillie reitet dienstags und sonntags, donnerstags spielt sie Klavier, und mittwochs macht sie einen Trapezkurs. Ihre Schwester Kira tanzt dienstags Hip-Hop, donnerstags geht's zum Ballett, samstags macht sie einen Tanz-, Gesangs- und Schauspielkurs, sonntags geht sie mit reiten. Und Mama Carmen Bethge? Die ist der Chauffeur. Etwa acht Stunden ist sie in der Woche im Auftrag ihrer Kinder unterwegs. Hinbringen, warten, wieder zurückfahren. Und das fast jeden Tag. Viel Zeit für Verabredungen am Nachmittag bleiben Lillie und Kira nicht. Doch die Mädchen sehen das ganz pragmatisch. "Unsere Freunde treffen wir doch bei den Hobbys." Und in der Schule. Die gibt es ja auch noch. Ein Thema, bei dem Carmen kein Pardon kennt. "Ich achte sehr darauf, dass die beiden ihre Schulaufgaben ordentlich machen und zusätzlich auch noch rund 20 Minuten am Tag lesen", sagt die Mutter.

"So, meine Süße, können wir jetzt los?", fragt Carmen Bethge ihre Jüngste. Lillie läuft zum Auto, steigt ein. Carmen startet den Motor. Plötzlich schreit Lillie: "Haaalt. Ich habe die Möhren für Pedro vergessen." Lillie stürmt zurück ins Haus, ihre Mutter verdreht die Augen. Und bleibt doch irgendwie gelassen: "Bei unseren Kindern muss man flexibel sein." Lillie kommt mit den Möhren zurück. Einsteigen, anschnallen, endlich los.

Auch Carmen hat in ihrer Jugend viel Sport gemacht. Zwölf Jahre Leistungsturnen. Viermal in der Woche, zwei Stunden Training. "Das war anstrengend. Und nicht immer lustig." Heiner Brandi, Jugendreferent beim Landessportbund Berlin, kennt diese Probleme. "Jeden Tag eine Stunde Sport für Kinder ist optimal. Dann kann man auch ruhig mehrere Hobbys haben", sagt er, "aber alles, was darüber hinaus geht, fällt in den Bereich Leistungssport. Hier müssen Eltern und Trainer besonders behutsam vorgehen, um die Kinder nicht zu überfordern."

Doch das ist gar nicht so einfach. Wenn sich die ersten Erfolge einstellen, wächst meistens auch der Ehrgeiz der Kinder. So wurde Kira zum Beispiel aus 1000 Kindern bei einem Casting für eine Revueshow im Friedrichstadtpalast ausgewählt. Seitdem sind Ballett und Bühne ihre Leidenschaft. Dafür legt sie sich mächtig ins Zeug: mindestens dreimal die Woche Unterricht, Proben, Premiere und Aufführungen in Berlin. "Kira ist schon fast eine kleine Rampensau", sagt Carmen. "Man merkt ihr einfach an, dass sie sich vor Publikum wohl fühlt. Eine gelungene Aufführung steigert ihr Selbstbewusstsein." Natürlich auch das der Eltern. "Klar sind wir stolz", sagen sie.

Auch auf Lillie. Sie ist schon bei mehreren Turnieren mitgeritten und hat Preise gewonnen. "Aber manchmal bleibt das Pferd einfach stehen", sagt Lillie. "Zum Glück ist dann die Trainerin da." Und Mama Carmen. Sie tröstet, wenn es mal gar nicht klappen will, lobt, wenn etwas gut läuft. "Es geht mir nicht darum, dass meine Kinder Trophäen gewinnen", sagt Carmen Bethge, "ich möchte, dass sie Freude an ihren Hobbys haben."

Und dauernd kommt noch ein neues dazu. Bei Lillie war es gerade der Trapezkurs. "Ich will eine richtige Akrobatin werden, so wie im Zirkus", sagt Lillie und schlägt schnell ein Rad - an den Füßen hat sie noch ihre Reitstiefel. Rund 500 Euro geben Carmen und Ingo Bethge jeden Monat für die Hobbys ihrer Töchter aus. "Und ständig wollen die beiden etwas anderes anfangen", sagt Carmen Bethge. Doch da gibt es eine Regel: Anfangen und sofort wieder aufhören ist nicht. "Bei uns wird mindestens bis zur Kündigungsfrist durchgehalten", so die Mutter.

Inzwischen ist es dunkel geworden in der Nauener Vorstadt. Lillie will jetzt kein Rad mehr schlagen, Kira steckt der Hip-Hop noch in den Knochen. Und auch Carmen ist froh, dass sie ihre Mädels gleich ins Bett bringen kann. Ausruhen für den nächsten anstrengenden Tag.