Wenn Kinder ins Heim ziehen

Trennung von überforderten Eltern kann Ausweg sein

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Nicole Oppermann

Foto: Christian Kielmann

Die Zahl der Kinder, die ins Heim ziehen, ist stark gestiegen. Allein in Berlin wurden im Jahr 2008 3984 Heimplätze vergeben. Die meisten Betroffenen sind Opfer ihrer überforderten Eltern. Die 15-jährige Nina zog freiwillig in ein betreutes Wohnheim. Bei ihrer Mutter gab es keine Wärme, nur Geschrei.

Endlich Ruhe. Nach 15 Jahren endlich Ruhe. Wenn Nina* (15) nachmittags aus der Schule kommt, die Tür ihres Zimmers zuzieht, die Augen schließt und nur ein paar Vögel zwitschern hört - dann weiß sie, dass sie alles richtig gemacht hat. Dass alles gut wird. Seit April 2009 lebt Nina in einer betreuten Wohngemeinschaft des Evangelischen Kinderheims Sonnenhof in Berlin Spandau.

Das Jugendamt hat ihr diesen Platz vermittelt. Weil Nina es so wollte. Weil sie es bei ihrer Mutter nicht mehr ausgehalten hat. Weil sie ein nervliches Wrack war.

"Ein Zuhause? Das hatte ich bei meiner Mutter nicht. Da gab es nur eins: Ärger. Und Lärm. Ständig dieser Lärm", sagt sie und zupft verlegen an ihren langen, blonden Haaren. "Ich konnte es nicht mehr ertragen. Meine Mutter hatte eigentlich nie Arbeit, höchstens ein paar Gelegenheitsjobs. Von meinem Vater hat sie sich getrennt, als ich noch klein war. Ihre ganzen Aggressionen habe immer ich abbekommen."

Mutter zeigte keinerlei Interesse

Nina fällt es sichtlich schwer über ihre Mutter zu reden. Ein Tabuthema. Sie macht das nicht oft. Das merkt man ihr an. Abwesend sinkt sie ein bisschen in ihrem Sessel ein, ein trauriges Lächeln huscht über ihr zartes Gesicht. Sie beißt auf ihrer Lippe herum, schluckt trocken. Dann sagt sie ernst: "Meine Mutter hat sich nicht für mich interessiert, wollte nichts über mich wissen, wie es mir geht, was ich mache." Dabei gibt es so viel, was Nina zu erzählen hat: Dass sie gern in die Schule geht, dass Erdkunde ihr Lieblingsfach ist, dass sie Abi machen und dann vielleicht Archäologie studieren will. "Stolz war meine Mutter nie auf mich. Aber viel schlimmer war dieser ewige Streit. Dieses Geschrei. Mir dröhnen immer noch die Ohren", sagt Nina. Sie wirkt angespannt und traurig, aber gleichzeitig ruhig und voller Hoffnung.

So wie Nina erging es im letzten Jahr rund 30.000 Kindern und Jugendlichen (17 Prozent mehr als 2007) in Deutschland. Eine Zahl des Statistischen Bundesamts, nackt und kalt. Aber hinter jeder Ziffer steht ein Schicksal. Allein in Berlin wurden 3984 Heimplätze vergeben, 2069 davon sind wie im Fall von Nina betreute Wohnformen. Die am häufigsten genannten Gründe (43 Prozent) für eine Heimunterbringung waren aber nicht sexueller Missbrauch oder körperliche Verwahrlosung und Gewalt, sondern die eingeschränkte Erziehungskompetenz der Eltern. Eingeschränkte Erziehungskompetenz - was bedeutet das konkret? Was sind die Folgen? "Die jungen Menschen zeigen Auffälligkeiten im sozialen Verhalten begleitet von schulischen oder beruflichen Problemen", erklärt die Berliner Kinder- und Jugendpsychologin Gela Becker-Klinger. "Es gibt zum einen die vernachlässigten, sogenannten Patchwork-Fälle: Plötzlich sind die Kinder ihren Eltern lästig, kommen mit den neuen Partnern und Geschwistern nicht zurecht, werden nicht mehr beachtet." Zum anderen gebe es Jugendliche, die seit ihrer Kindheit emotional vernachlässigt würden. "Sie haben lange versucht zu verzeihen, bis es plötzlich aus ihnen herausbricht", so Becker-Klinger weiter. Auch bei Nina eskalierte die Situation. Nach einem Streit mit ihrer Mutter packte sie ein paar Sachen und ging. Einfach so. Für immer. "Als ich die Tür hinter mir schloss, fühlte ich mich besser. Meiner Mutter erzählte ich natürlich nichts davon", sagt Nina. Sie kam erst mal bei ihrem Vater unter. Aber der konnte sich auch nicht um seine Tochter kümmern. Also war das Jugendamt die letzte Chance. Nina schilderte dort ihren Fall, dann folgte ein Bürokratie-Marathon. Erst wurden Ninas Eltern mehrfach befragt. Dann musste ein Heim und ein Platz gefunden werden. So kam Nina zum Sonnenhof.

"Meine Mutter hat sofort zugestimmt, wirkte fast erleichtert", sagt Nina. Keine seltene Reaktion. "Eltern sind genauso überfordert wie Kinder. Sie fühlen Erleichterung, wenn die Verantwortung auf andere übertragen wird", berichtet Gela Becker-Klinger aus ihrer Berufspraxis: "Nicht nur Kinder brauchen Hilfe. Auch Eltern haben darauf Anspruch. Sie machen sich Vorwürfe, wenn sie ihren Kindern nicht das geben können, was sie brauchen. Sie fühlen sich als Versager, sehen, dass es in anderen Familien funktioniert."

Nina ist das egal. Sie empfindet das erste Mal in ihrem Leben so etwas wie Freiheit: "Ich freue mich jeden Tag, wenn ich nach der Schule nach Hause komme. In mein kleines Reich." Ihr Zimmer hat sie sich selbst eingerichtet. Es ist ordentlich, nichts liegt rum, trotzdem wirkt es gemütlich. Und sehr persönlich. An den Wänden hängen Babyfotos ihrer kleinen Nichte. "So ganz ohne Familie geht es eben doch nicht", sagt Nina und lächelt. Auf ihrem Nachttisch liegen der letzte Harry-Potter-Band und Modezeitschriften. Ninas bunte Ikea-Bettwäsche leuchtet. Das Zimmer eines ganz normalen Teenagers. Aber eines Teenagers mit einer bewegenden Geschichte. "Bei meiner Mutter war ich nervös, unsicher. Jetzt bin ich viel selbstbewusster", sagt sie und erzählt stolz: "Vor ein paar Monaten wusste ich nicht mal, wie man eine Waschmaschine bedient. Heute schaff' ich das locker. Ich kann jetzt auch kochen und mit Geld umgehen." Gerade mal 57,58 Euro Taschengeld stehen Nina im Monat zur Verfügung. Weniger als zu Hause. Doch das ist ihr nicht so wichtig:

Nach der Schule erst mal reden

"Wenn ich aus der Schule komme, klopfe ich erst mal an Michis Tür und schildere ihm meinen Tag", erzählt Nina. Und auch davon, dass sie sich endlich nicht mehr einsam und allein fühlt. Michael "Michi" Borowski ist einer von zwei Betreuern für insgesamt vier junge Menschen. Er ist da, wenn Nina und ihre drei Mitbewohner Ärger haben oder machen. "Klar gibt es oft Zoff. Die vier sind keine Engel, sondern normale Teenager, die ihre Grenzen austesten, Erfahrungen machen müssen", sagt Borowski. Wenn es aber hart auf hart kommt, hält die Gruppe zusammen. Sie alle haben ihr Schicksal: gleichgültige Eltern, Gewalt zu Hause, Alkohol- und Drogen-Erfahrungen. In ihrer Mini-WG fühlen sie sich verstanden, auch geborgen - irgendwie.

Es gibt Rechte und Pflichten, die sie einhalten müssen. So wie die Hausordnung. "Nicht immer einfach, aber machbar", sagt Borowski und lächelt Nina zu. "Ihr Mädels seid da ja vernünftiger." Und häuslicher. Nina geht gern einkaufen, damit im Kühlschrank keine gähnende Leere herrscht. Zu Aldi oder Penny. Nina hat jetzt Verantwortung. Das gefällt ihr. "Ich finde es toll, für unsere WG einzukaufen. Das macht Spaß. Und glücklicherweise mögen wir alle das gleiche Essen", erzählt sie. Außerdem schweißt so ein Kochabend zusammen. "Endlich kann man einfach mal entspannt quatschen. Über den Tag, über Probleme oder einfach nur über Schwachsinn. Das kommt hier oft vor", erzählt Nina. Sie lacht und wirft dabei den Kopf in den Nacken, ihre silberfarbenen Kreolen-Ohrringe schwingen hin und her. Mode ist Nina wichtig. Sie hat nicht viel, aber manchmal gönnt sie sich auch einen Shoppingnachmittag. Wie 15-Jährige eben so sind.

Dass sie hübsch ist, hat Ninas von ihrer Mutter so gut wie nie gehört: "Meine Mutter und Komplimente? Meckern war doch viel einfacher", sagt sie traurig. "Heute kriege ich Bestätigung von außen. Von Freunden. Das tut gut." Ob Nina irgendwann bereit ist, sich mit ihrer Mutter zu versöhnen, sich auszusprechen? "Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Ich hasse sie ja nicht oder so. Sie tut mir einfach nicht gut." Noch sitzen der Schmerz und die Enttäuschung zu tief. Noch hat Nina ihrer Mutter nichts zu sagen. Auch eine Erklärung will sie nicht hören. "Das kann man einfach nur so akzeptieren. Wir dürfen Nina zu nichts zwingen, was sie nicht auch selber wirklich will", betont Michael Borowski. Er weiß aus Erfahrung, was sonst passiert. Sobald er das Thema anspricht, entzieht sich Nina tief verletzt. Und genervt. Manchmal knallen da auch Türen. "Nina hat schlechte Erinnerungen an ihre Mutter, sie ist zudem erst ein paar Monate hier. Sie braucht Zeit und Abstand." Jetzt bekommt Nina erst mal Besuch von einer Freundin aus Wien. Dann kann sie mit ihr von besseren Zeiten träumen. In ihrem neuen Zimmer.

* Name geändert

Deutschlands Heime sind voll

Die Jugendämter standen mit jedem neuen Skandal-Fall stärker unter Druck. Immer häufiger nahmen sie deshalb hin den vergangenen Jahren Kinder und Jugendliche früh aus den Problemfamilien. Jetzt zeigen sich die Folgen: Deutschlands Heime sind voll. Im Vergleich zu 2005 hat die Zahl der Heimunterbringungen um 26 Prozent zugenommen, so das Statistische Bundesamt.

Betroffen sind alle Altersgruppen. Doch vor allem jüngere Kinder haben die Ämter häufiger aus den Familien genommen. Der Anteil der unter Dreijährigen lag 2008 bei zehn Prozent und damit doppelt so hoch wie im Jahr 2000. Mittlerweile ist jedes vierte Kinde acht Jahre alt oder jünger. Noch in den 90er-Jahren waren Heime geschlossen worden, weil man eher auf ambulante Hilfe setzte.