Ballett-Casting

Kleine Stars wollen in den Friedrichstadtpalast

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Barbara Kollmann

Foto: Reto Klar

Beim Casting im Friedrichstadtpalast wetteifern Erst- und Zweitklässler um einen von etwa 40 Plätzen im Ballettensemble. Die Kleinen haben oftmals schon Tanz-Erfahrung. Obwohl die Veranstaltung spielerisch ablaufen soll, ist der Ehrgeiz der Kinder groß.

Fast 100 kleine Mädchen warten schon um kurz vor zwei vor der Tür des Friedrichsstadtpalastes. Geschrei, Gelächter, einige haben Lampenfieber, andere nicht. „Ein Sack Flöhe“, sagt eine genervte Mutter. „Leider nicht so leise…“, ergänzt ihre Nachbarin. Casting für das Junge Ensemble des Friedrichstadtpalastes, gesucht: Tänzer aus der ersten und zweiten Klasse. Ehrgeizige Kinder haben Väter überredet, den Tag freizunehmen, die Oma eingespannt, die Mutter in die Friedrichstraße gezerrt.

Mariella (6) hat seit einem Jahr Ballettstunden, will unbedingt auf die Bühne. Daniel (8) sieht es cool: „Ich mache nur mit, um meine Schwester zu ärgern. Die ist auch hier.“ Beide haben schon Tanzkurse hinter sich, lateinamerikanisch. Spielerisch soll das Casting sein, Spaß machen. Kinder in 50er Gruppen werden im Probesaal getestet – aber der Ehrgeiz der kleinen Mädchen ist riesig. Die wenigen verstreuten Jungs schauen sich unsicher suchend um – die Tänzerinnen sind klar in der Überzahl.

„Immer“, sagt Pressesprecherin Nicola Pattberg, die mit ihrem Team versucht, mehr als 200 Kinder in Gruppen zu kanalisieren – und keines in den langen Gängen zu verlieren. Ein Sack Flöhe eben, und hüpfen müssen sie jetzt auch.

Christina Tarelkin ist Direktorin des Jungen Ensembles. Sie lässt die Kinder Hampelmann machen und Klatschen. Jetzt geht Bärbel Heidel, die künstlerisch-pädagogische Betreuerin, durch die Reihen. Sie testet vorsichtig, wie gelenkig die kleinen Tänzer sind, wie beweglich.

Das Kind Nummer 1 in der ersten Reihe ist einer der wenigen Jungs. Er stellt sich sehr höflich vor: „Mein Name ist Simon Maximilian Froh, und meine Mutter ist auch Tänzerin.“ Sieben Jahre alt ist er, hatte noch keinen Tanzunterricht, aber schon einen eigenen Stil: „Ich tanze immer so!” – der Simon-Dance ist eine Mischung aus Charlie Chaplin und Astaire, im Zeitraffer.

Er erklärt, seine Mutter habe auch getanzt. Im Friedrichstadtpalast, natürlich (erzählt im Ton tiefster Überzeugung). Es stimmt nicht ganz, seine Mutter Hajnalka war klassische Ballerina, stand auf Bühnen in Freiburg, Bielefeld, München, der Vater war 15 Jahre Tänzer an der Staatsoper in Berlin. Solche obskuren Theater zählen aber im Moment für Simon nicht, für ihn ist der Friedrichstadtpalast das Größte. Seine Mutter: „Wir sehen dort alle Shows, er kennt sich aus.“

Die Kinder sollen sich jetzt vorstellen, sie seien im Wald. Die meisten Mädchen wollen als Schmetterlinge flattern, Chantal (7), die sonst nie stillstehen kann, ist ausgerechnet ein Baum. Und Simon ein Affe.

Die Eltern, sie dürfen nicht zusehen. Während die Kinder cool ihren Job machen, trinken die Großen im Foyer zu viel Kaffee, machen sich zu viele Sorgen, schauen jede Minute auf die Uhr. Chantals Mutter Melanie Ladewig (28) musste den halben Tag freinehmen, ihre Tochter wollte zum Casting, Widerspruch zwecklos. Die Bürokauffrau war vor 20 Jahren selber hier, stand vor den strengen Jury-Richtern. Und wurde nicht genommen: „Ich war wohl zu ungelenk.“ Daran erinnert sie sich heute, und es war nicht schön. Deswegen ist sie aufgeregt – während Chantal im Proberaum einfach ihren Spaß hat: „Sie nimmt das ganz locker. Ich hatte ihr gesagt, wenn’s nicht klappt, auch nicht schlimm, wir gehen trotzdem ein Eis essen.“

30 bis 40 Kinder werden ins Ensemble aufgenommen, stehen bei der Show im nächsten Winter auf der großen Bühne. Die anderen – das ist der härteste Part am Job der Kinderensemble-Direktorin. Christina Tarelkin sammelt die Kleinen, sagt ihnen, wie toll sie waren, dass sie nächstes Jahr wiederkommen können, nicht traurig sein sollen. Es hilft nichts.

Simons großer Bruder Gabriel (9) ist bei der traurigen Gruppe, versteht nicht: „Aber mein Bruder ist doch dabei!“ Simon hat den Schein bekommen, von dem die Kinder träumen – er soll zur zweiten Runde kommen, am 23. Februar. Gabriel ist enttäuscht – der einzige Nicht-Tänzer in seiner Familie. Aber nach der Fahrt nach Hause ist schon er darüber weg, erzählt seine Mutter.

Und bei Mariella, da flossen die Tränen. Sie hatte kein Lampenfieber, sie lernt Ballett, sie konnte alles – trotzdem hat es nicht gereicht. Mariella war mit 1,12 Meter einfach zu klein, sie wächst ja bis zum nächsten Jahr, dann kann sie wieder zum Casting. Aber ein Jahr – für ein Mädchen von sechs Jahren sind das zwei Ewigkeiten.

Chantal dagegen. Selbstbewusst und quirlig, kann gar nicht verstehen, dass jemand an ihrem Erfolg zweifeln konnte. Klar ist sie bei der nächsten Runde dabei. Erst einmal aber nutzt sie das Eis-Versprechen der Mutter aus, gründlich. Ihr Lieblingseis soll sie sich aussuchen. Das ist: „Schokolade. Und Vanille. Und Erdbeer auch.“

Sie ist eben ein Star. Das Casting im Friedrichstadtpalast brauchte sie gar nicht, das wusste sie so.