Ruhig ist es an diesem Sonntagvormittag auf Eiswerder. Die Motorboote gegenüber liegen noch am Anleger, Spaziergänger gibt es kaum. Es ist Ferienzeit, und die kleine Insel in Spandau ist nicht das erste Anlaufziel von Touristen. Auch das Wetter lädt nicht gerade zu einem Ausflug an die Havel ein. Dabei ist auf dem Wasser schon einiges los. Etwa ein Dutzend Kanuten paddeln rasant zwischen den Ufern von Eiswerder und der kleinen vorgelagerten Pionierinsel. Von einem Tor zum anderen. Dazwischen fliegt ein gelber Ball hin und her, mal geworfen, mal mit den Paddeln geschlagen.
An sonnigen Tagen bleiben die Menschen am Ufer stehen, und die Bootsführer auf der Havel stellen kurz mal den Motor ab, um sich das Treiben auf dem Wasser anzuschauen. „Was macht ihr denn da?“, wollen die Neugierigen wissen. Die Kanuten können sie erst einmal nicht hören, schließlich haben sie einen Helm auf dem Kopf. Also noch mal lauter. Die Spieler rufen zurück: „Kanupolo“. Ungläubige Blicke: „Polo? Das geht doch mit Pferden!“
Elke Kunz lächelt. „Nein, mit Pferden hat Kanupolo nichts zu tun“, erklärt die Sportwartin des Vereins KSV Havelbrüder und erläutert den Zaungästen immer wieder gern die Idee des Sports. Beim Kanupolo versuchen fünf gegen fünf Spieler, jeder in einem Kajak, den Ball ins jeweils gegnerische Tor zu bekommen. Die Tore sind zwei Meter über der Wasseroberfläche montiert und stehen in der Mitte der kurzen Seiten des 23 mal 35 Meter großen Spielfelds.
Nichts für Zimperliche
Zimperlich geht es beim Kampf um den Ball nicht gerade zu. Der Gegner – mit Ausnahme des Torwarts – darf auch schon mal weggeschoben oder zum Kentern gebracht werden. Manchmal entfährt einem unerfahrenen Zuschauern dabei ein erschrecktes „Huch“, aber nur einen Augenblick später sitzt der Gekenterte zwar pitschnass, aber wieder aufrecht in seinem Kajak. „Die Kenterrolle ist das A und O“, erklärt Elke Kunz, die selbst 22 Jahre lang Kanupolo betrieben hat. Und Ute Hertrampf, die zweite Vorsitzende des Vereins ergänzt: „Man muss schon Spaß am Raufen haben, sonst wird das hier nix.“
Das erklärt wohl auch, wieso mehr Jungen als Mädchen sich für diesen Sport begeistern. Unter den zehn Kanuten, die an diesem Sonntag auf der Havel trainieren, ist nur ein Mädchen. „Insgesamt haben wir bei den Schülern und Jugendlichen aber vier Mädchen“, sagt Elke Kunz, und das seien schon viele. Der Verein hat schließlich auch eine Damenmannschaft in der Bundesliga und eine Weltmeisterin, die Kanutin Stefanie Esser, hervorgebracht.
Fünf Kanupolo-Vereine in Berlin
Die Kanusportvereinigung Havelbrüder ist einer von fünf Vereinen, die in Berlin Kanupolo anbieten. Damit ist die Hauptstadt neben Nordrhein-Westfalen eine Hochburg für diese Randsportart. Dennoch kennt sie kaum jemand. Neu ist Kanupolo allerdings nicht. Bereits in den 20er-Jahren wurden die ersten Spielregeln aufgestellt. So wurde zunächst auf einem Großfeld gespielt, vergleichbar mit dem eines Fußballfeldes.
„Da dauerte viel zu lang“, sagt Elke Kunz, „wenn es vom einen Tor zum anderen ging, konnte der Schiedsrichter am einen Ende erst mal in Ruhe Kaffee trinken“. Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es daher lang, bis die vergessene Sportart wiederentdeckt wurde. Richtig gelang das erst 1990, nachdem auf das heute übliche Kleinfeld umgestellt wurde und damit Tempo ins Spiel kam. Gerade das gefällt auch Marcel am Kanupolo.
Viele Familien sind über Generationen dabei
Der 18-Jährige kam vor sieben Jahren zu den Havelbrüdern. Vorher war er im Schwimmverein, hatte aber irgendwann die Lust verloren, immer nur Bahnen zu ziehen. Über einen Freund hörte er von Kanupolo und wollte das selbst mal ausprobieren. Dabei ist es geblieben. Inzwischen spielt er bei den Junioren und trainiert zwei- bis dreimal in der Woche, je nachdem wie viel Zeit er neben seiner Ausbildung hat. Marcel ist angehender Mechatroniker. Seine Eltern haben ihm geraten, sich deutschlandweit für einen Ausbildungsplatz zu bewerben, aber ihr Sohn hat es dann doch nur in Berlin versucht – zum Glück mit Erfolg. „Ich wollte unbedingt bei den Havelbrüdern bleiben.“
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Große Verbundenheit mit ihrem Verein zeigen auch die anderen, insgesamt 90 Mitglieder der Havelbrüder. Viele Familien sind schon über mehrere Generationen dabei. Auch Elke Kunz und ihr Mann Christian, der hier seit 1992 Trainer ist, sind hier im Verein groß und ein Paar geworden. Heute trainiert er auch die gemeinsame Tochter Hannah. Die Elfjährige saß im Kajak, sobald sie schwimmen konnte. Bei Wettkämpfen darf sie aber erst mitmachen, seit sie zehn ist, so schreiben es die Regeln vor.
Ein Sommer auf der Insel
Hannahs Opa ist sogar schon seit 60 Jahren im Verein. Der Kanute war 40 Jahre lang Kassenwart, heute ist Claus Sander 77 Jahre alt, Bootswart und so etwas wie die Seele des Vereins. Seit er sich mal bei einer Weihnachtsfeier als Weihnachtsmann verkleidet hat, wird er auch gern „Santa Claus“ genannt. Den Sommer über lebt der Rentner fast nur auf der Insel. Die Flugzeuge, die hier alle paar Minuten geräuschvoll zum Landeanflug auf Tegel ansetzen, stören ihn genauso wenig wie die spartanische Ausstattung des Vereins. „Hier gibt es null Luxus“, erklärt Elke Kunz, „keine Heizung und meist auch kein Trinkwasser.“ Die Toiletten sind in einem Bauwagen untergebracht. Duschen fehlen und die Küche ist provisorisch an der Schuppenwand im Freien eingerichtet.
Trotzdem kommen die Havelbrüder gern nach Eiswerder. Selbst wenn sie kein Training haben. Am Abend trifft man sich am Lagerfeuer und gegrillt gemeinsam. „Wir machen es uns hier gemütlich“, sagt Elke Kunz, während sie ein Tablett mit einer Thermoskanne Kaffee und Bechern zu einem der zwei Holzstege am Wasser trägt, „man braucht nur eine warme Jacke“. Trainiert wird bei den Havelbrüdern nämlich, sobald die Havel eisfrei ist.
Kein Training im Winter
Im Winter herrscht dann meist Ruhe auf dem Gelände. Claus Sander schaut regelmäßig nach dem Rechten, aber die Kajaks bleiben im Schuppen. Eine Trainingszeit in einer Schwimmhalle haben die Kanupolospieler nicht. Die Hallenbäder sind schon durch Schulen und Schwimmvereinen voll belegt. Nicht nur deshalb wird den Havelbrüdern die Zeit bis zum nächsten Frühjahr immer lang. Die Zeit dort sei für sie immer wie Urlaub, sagt Jutta Füssel, die ihre zwei Söhne von Frühjahr bis Herbst von Gatow nach Eiswerder zum Training fährt.
Das Urwüchsige ist das, was alle schätzen. Dazu passen auch die Biber, die in der Havel schwimmen. Sie sind Bewohner der Insel, die unter Naturschutz steht. Nur manchmal muss ein „Havelbruder“ ihre Ruhe kurz stören, wenn sich ein Ball auf das kleine, dicht bewachsene Eiland verirrt hat.