Die Halbinsel Stralau? Ist das nicht die mit dem schiefen Kirchturm? Stimmt. Die zwischen 1459 und 1464 errichtete Dorfkirche mit dem schiefen weißen Turm gehört zu Stralau wie die Friedrichstraße oder der Tauentzien zu Berlin.
Glaubt man dem Friedhofsgärtner, der jeden Tag auf dem Kirchhof zu tun hat, ist das Gotteshaus sogar das älteste Gebäude von Friedrichshain-Kreuzberg. Zu diesem Bezirk gehört die 130 Hektar große Halbinsel zwischen Rummelsburger See und Spree seit der Wende. Verwaltungstechnisch jedenfalls. Ansonsten scheint sie ein autonomes Eiland zu sein mit eigenen Gesetzen.
Das findet auch Vanessa. Die 20-Jährige hat gerade Abitur gemacht und jobbt in den Ferien bei einem der beiden Bäcker, die es auf Stralau gibt. Vor acht Jahren ist sie mit ihren Eltern von Lichtenberg auf die Halbinsel gezogen und würde am liebsten gar nicht mehr weg wollen. Doch das geht nicht.
Wohnen im Speicher
Eine eigene Wohnung auf Stralau – für Vanessa wäre das viel zu teuer. „Es ist wunderschön hier“, sagt sie. „Wenn ich mit dem Fahrrad aus der Stadt komme und am Ostkreuz auf die Halbinsel fahre, bin ich augenblicklich in einer anderen Welt.“ Vanessa schwärmt von der Ruhe, vom Blick aufs Wasser. „Die Zeit läuft anders hier“, sagt sie und hofft, dass sie in Friedrichshain eine Wohnung findet. „Das ist wenigstens nicht so weit weg von Stralau.“
Dass die Halbinsel früher ein wichtiger Industriestandort war, ist heute kaum mehr vorstellbar. Nur einige Gebäude zeugen noch davon. Zwei Häuser der ehemaligen Glasfabrik etwa, die noch saniert werden sollen und auch der sechsstöckige Speicher am kleinen Nixenkai. Das wuchtige Gebäude, im Stil der Neo-Renaissance errichtet, war Teil einer Anlage zur Herstellung von Palmkernöl.
Der dazu nötige Rohstoff aus dem Fruchtfleisch der Ölpalme wurde zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs aus den afrikanischen Kolonien nach Stralau geliefert. Der Speicher ist noch gut erhalten und wird gerade umgebaut, etliche Wohnungen und eine Galerie sollen darin Platz finden.
„Hier wird doch jeder Quadratmeter zugebaut“
Ruhig sei es schon auf Stralau, sagt auch der Friedhofsgärtner, zumindest auf „seinem“ Friedhof. Schön aber sei die Halbinsel schon lange nicht mehr. „Hier wird doch jeder Quadratmeter zugebaut.“ Er liebe die Natur, sagt der Gärtner. Auf Stralau gebe es die aber nur noch auf dem Friedhof. „Neulich hatte ich mal drei Tage Urlaub. Als ich wieder kam, waren auf dem Grundstück schräg gegenüber alle Bäume gefällt. Große alte Bäume. Das war ein Schock.“
Das Areal gegenüber der alten Dorfkirche ist eine der letzten Freiflächen auf der Halbinsel. Auch hier sollen nun wie schon andernorts Eigentumswohnungen entstehen, insgesamt 107 – vier Seevillen und fünf Mehrfamilienhäuser sowie eine Parkanlage mit Spiel- und Erholungsflächen. Nach Angaben des Investors sind bereits mehr als 40 Prozent der Wohnungen verkauft. Es gibt Käufer aus anderen deutschen Städten und sogar aus den USA.
„Wenn das fertig ist, ist auf Stralau alles dicht“, sagt der Friedhofsgärtner. Es bliebe dann nicht mal mehr Platz für die Wasservögel. Er würde deshalb hier nicht wohnen wollen. Selbst, wenn er das nötige Geld dafür hätte.
In Stralau hat man gern seine Ruhe
Es ist tatsächlich bereits ziemlich eng auf der kleinen Halbinsel gegenüber dem Treptower Park. Insgesamt sollen hier bis zu 4200 Wohnungen entstehen, davon sind seit 1994 bereits 2500 fertig gestellt oder gerade noch im Bau. Gebaut wurden vor allem Eigentumswohnungen und Stadthäuser. Dazwischen liegen kleine Gärten und blumenbepflanzte Terrassen. Die meisten Wohnungen haben einen Balkon.
Alles sieht ordentlich aus, gepflegt, aufgeräumt. Wer wochentags um die Mittagszeit über die Insel spaziert – es gibt einen sechs Kilometer langen renaturierten Uferweg, auf dem man Stralau umrunden kann – fühlt sich ein wenig fremd, so als störe er den inneren Frieden dieses Ortes. Nur wenige Menschen sind zu sehen: junge Mütter mit Kinderwagen, alte Leute, Jogger. Es ist nicht leicht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Wer hier wohnt, will seine Ruhe haben, so scheint es.
>>>Alles am Fluss – hier finden Sie alle Teile der Serie<<<
Vanessa formuliert das so: „Wir sind hier ein bisschen für uns.“ Das hätten auch ihre Freundinnen bemerkt und immer behauptet, dass sie auf dem Dorf wohne. Vanessa lacht. Dieser Vergleich gefällt ihr. Schließlich kennt sie fast jeden auf Stralau. „Das hat schon was von einem Dorf“, sagt sie.
Die meisten Wohnungen haben einen Wasserblick
Viele Stralauer bezeichnen es als Privileg, „mitten in der Stadt und doch irgendwie draußen“ zu wohnen. Aylin, 34, zum Beispiel, die mit ihrem Mann und Töchterchen Jules vor zwei Jahren von Frankfurt am Main auf die Halbinsel gezogen ist. Die Familie wohnt im sogenannten Flaschenturm.
Der 1923/24 zum Abfüllen von Getränken errichtete Turm aus rotem Backstein wurde um- und ausgebaut und beherbergt nun großzügig geschnittene Wohnungen mit riesigen Fenstern und umlaufenden Balkonen. Der Turm steht dicht am Ufer des Rummelsburger Sees, die meisten Wohnungen haben einen Wasserblick. „Mein Mann stammt aus Stockholm, er braucht das Wasser, auch deshalb sind wir nach Stralau gezogen“, sagt Aylin. Abgesehen davon seien die Mieten selbst in dieser Lage noch deutlich günstiger als in Frankfurt am Main.
Auch Jens (42) wohnt im Flaschenturm, zusammen mit seinem Hund Teddy. „Mich hat die Wasserlage inspiriert. Ich habe kürzlich in der kleinen Stralauer Hansa-Werft meinen Bootsführerschein gemacht“, erzählt er. Sogar einen Liegeplatz am Ufer des Rummelsburger Sees habe er bereits gemietet. „Jetzt fehlt nur noch das richtige Boot.“
Supermärkte und Cafes fehlen auf der Halbinsel
Aylin und Jens sind Nachbarn im Flaschenturm und inzwischen gut befreundet. Beide lieben die Halbinsel. Was ihnen allerdings fehlt, ist eine funktionierende Infrastruktur. „Es gibt hier zwei Kitas und eine Grundschule, aber keinen Supermarkt und kein schönes Café“, sagt Aylin. Jens nickt. Mit dem Fahrrad sei er zwar schnell im Kiez rund um die Simon-Dach-Straße. Dort seien viele Geschäfte.
„Es wäre trotzdem schön, auch mal zu Fuß einkaufen gehen zu können“, sagt er. Schließlich wohnten auch ältere Leute auf Stralau, die nicht so mobil seien, viele im Seniorenheim an der Bootsbauerstraße. Jens hofft, dass es wenigstens bald ein Café gibt. Sein Vorschlag: „Die untere Etage des Speichers, auf Wasserhöhe gelegen, wäre ideal.“
Vanessa muss das alles nicht haben. Rings um Stralau gebe es genügend „coole“ Cafés und Kneipen. „Ich finde es viel besser, dass hier nicht so viel los ist, das ist doch das Besondere an Stralau“, sagt sie.