Die Spree in der Sonne, wer denkt da schon an das Herz der Finsternis? An jene Geschichte über eine Bootsfahrt im Kongo, die mit den legendären Worten „Das Grauen, das Grauen“ endet. Okay, in Berlins Gewässern lauern keine Krieger mit Pfeil und Bogen.
Aber Unerwartetes gibt es auch hier. Wer versucht, einfach mal mit dem Boot durch Berlin zu fahren, darf mit etwas Fantasie an diese Abenteuergeschichte denken. Denn unterwegs lernt man neue Mächte kennen.
Wenige Tage vor meiner Abfahrt klang es noch einfach, bei einem Telefonat mit einem Bootsvermieter am Müggelsee. Ich möchte durch Berlin schippern, sagte ich, so weit in den Westen, wie es gehe, die Stadt durchqueren. Nein, einen Führerschein für Binnengewässer hätte ich leider nicht.
Antwort: Das sei kein Problem, er habe geeignete Boote, sagte der Vermieter. Allerdings käme ich von der Oberbaumbrücke an nicht weiter. Die City ist nur für größere Schiffe geöffnet. Stattdessen müsse man Kanäle fahren. Und darauf achten, vor Sonnenuntergang zurück zu sein. Das Boot habe kein Licht.
Also rechnete ich: von 9 Uhr bis zum Sonnenuntergang um 21.32 Uhr. Reichlich Zeit, mehr als zwölf Stunden. Ein Blick auf die Karte, die Route: Zur Oberbaumbrücke, über den Landwehrkanal zum Spreebogen und dann, je nach Uhrzeit, unter der Stadtautobahn durch bis zur Schleuse Spandau. Und falls das alles zu lange dauert: einfach früher zurück. Ja, so hatte ich mir das vorgestellt.
Die Schweigsamkeit des Berliner Nautik-Profis
Am Morgen des Abenteuers, ich stehe am Steg des Bootsverleihs. Das Wasser glitzert verlockend. „Da wollen Sie hin?“, fragt mich der Bootsvermieter. Sein Finger liegt auf der Wasserkarte, wo die Spandauer Schleuse eingezeichnet ist. „Dann müssen Sie ganz da unten zurück.“ Er fährt mit dem Finger ein Dreieck über die Karte, die Havel bis nach Potsdam, zurück nach Osten über den Teltowkanal.
Sein Finger berührt entlegene Gegenden wie Kleinmachnow. Da unten, sagt er, sei es außerdem ziemlich „grün“. Es klingt, als spreche er über einen unerforschten Teil des Dschungels. Der Vermieter schaut auf die Uhr, schüttelt den Kopf: „Das schaffen Sie heute nicht mehr.“
Das schaffen Sie heute nicht mehr? Um kurz nach neun Uhr morgens. Die Vermietung hat gerade erst geöffnet. Für mich klingt das wie ein: mal halblang, Leichtmatrose. Da hast du dir ein bisschen viel vorgenommen. Das stimmt vielleicht auch. Aber die wichtigere Erkenntnis: Es ist bemerkenswert, wie eigensinnig nautische Profis ihr Wissen für sich behalten.
Landwehrkanal für Motorboote nur eingeschränkt befahrbar
Vielleicht habe ich am Telefon die falschen Fragen gestellt. Noch einmal: Was ist das Problem? „Der Landwehrkanal ist für motorisierte Boote nur in eine Richtung befahrbar“, sagt der Vermieter. Deshalb könne ich nicht zurück. Aha. Warum erfahre ich das erst jetzt? Wer als Hobbyskipper im Internet liest, auch über den Landwehrkanal, stößt nicht sofort darauf. Auch auf der Seekarte der Bootsvermietung ist dieser wichtige Hinweis nicht vermerkt. Nur, dass Boote mit fünf oder weniger PS nicht durch die City dürfen.
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„Bitte fahren Sie über den Landwehrkanal“, steht dort sogar. Kein Hinweis, dass es eine Reise ohne Rückkehr werden kann, dass, wer den Landwehrkanal nimmt, bestenfalls in der grünen Hölle von Kleinmachnow landet. „Kann man das Boot bei einem befreundeten Anleger in Spandau über Nacht festmachen?“, frage ich. Die ebenfalls sehr maritime Antwort: „Nee, gibt es nicht.“
Später werde ich herausfinden, dass es nur die halbe Wahrheit ist, die der Bootsvermieter mir gesagt hat. Ambitionierte Laien haben es schwer bei ihren ersten Schritten auf den Planken.
Die Spree ist breit wie eine amerikanische Straße
Doch die Hoffnung flammt wieder auf. Ein anderer Mitarbeiter des Bootsverleihs hat weniger apokalyptische Ansichten als mein erster Berater. Nun, sagt er, man könne den Schleusenwärter an der Oberschleuse fragen, ob man in den Kanal hinein und wieder hinaus dürfe. Mitunter funktioniere das, habe er mal gehört. Konkreter wird er nicht.
Eine geringe Chance, das reicht mir. Ungelenk gehe ich an Bord, lasse mir die Technik erklären, dann trudelt mein kleines Boot mit Außenborder auf die Spree. Ich drücke den Gashebel, reiße am Steuerrad und fahre eine Wende. Es fühlt sich gut an, wie das Wasser hochspritzt. Wer jetzt Angst hat, sitzt außerhalb des Bootes, denke ich. Ich strecke meine Nase in den Wind.
Das Schöne ist: Auf dem Wasser zu fahren, lohnt sich von der ersten Minute an. Die Spree ist hier breit wie eine amerikanische Straße, man gleitet dahin und schaut sich die schönen Gärten der Häuser an, die das Privileg haben, am Wasser zu stehen. Weniger einladend sind die Schilder überall: „Privat“.
Berlins größte Reederei beförderte 2012 1,2 Millionen Fahrgäste
Aber vielleicht muss das sein, dort kommen viele Boote vorbei. Von überall, Berlin ist über Wasser aus allen Himmelsrichtungen zu erreichen. Man sieht Yachten mit schweizer Flagge. Und viele Touristen auf Ausflugsschiffen. Allein die größte der Berliner Reedereien hatte im vergangenen Jahr 1,2 Millionen Fahrgäste. Nur der Zoo, das Pergamon-Museum und der Reichstag ziehen mehr Besucher an, so ist es auf der offiziellen Internetseite der Stadt zu lesen. Die Lobby der Reeder dürfte sehr einflussreich sein.
Zwei schmale Ruderboote mit kräftigen Jungs kommen mir entgegen. Dagegen sieht mein Gefährt aus wie ein Planschbecken. Es ist eben so: Das hier ist ein fremdes Element. Die Ruderer sind elegant wie Fische. Ich versuche dagegen, über Wasser zu bleiben. In diesem schwachen Moment denke ich wieder an ihn, den Schleusenwärter. Ich stelle ihn mir als Hüne vor, der den Daumen hebt oder senkt über das Schicksal von Wasserreisenden wie mir. Was, wenn er mich erst einlässt, dann aber nicht heraus? In meinen Gedanken wird die Schleuse zu meinem persönlichen Herz der Finsternis.
Besser auf Berlins Gewässern als in der Straßenbahn
Gut, dass es noch eine Stunde ist bis zur Oberbaumbrücke. Die malerische Altstadt von Köpenick liegt hinter mir. An die Ufermauer hat jemand gemalt: „I love you“, auf der anderen Uferseite steht „I love you, too“. Weiter vorne sehe ich eine Straßenbahn, sie fährt über eine der vielen Brücken. Schön, da nicht drin zu sitzen. Wie viel freier ist das Gleiten auf dem Wasser.
Es gab mal eine Fernsehwerbung für ein Rasierwasser: Ein Mann im Business-Anzug schaut von einer Berghütte hinab in eine Metropole voller Hochhäuser. Er betrachtet die Staus auf den Straßen, dann steigt er in sein Kajak und fährt die Stromschnellen hinab bis zur Stadt. Mit dem Paddel in der Hand kommt er im Büro an. Klar, dass ihm eine hübsche Kollegin über den Weg läuft.
Wie praktisch das wäre, über das Wasser zur Arbeit fahren. Aber umso verständlicher, dass es strikte Regeln geben muss. Sonst wäre ja hier die Hölle los hier. Typen in Jogginghose würden Club-Mate trinken und endlose Regatten fahren. Der Fluss führt an einem Zementwerk vorbei, ein Bagger lädt Sand aus einem Kahn.
Dafür waren sie ja eigentlich mal da, die Kanäle. Als Transportweg. Ich wurde noch gewarnt vor den Berufsschiffern, man solle Abstand wahren. „Die halten einfach drauf“, hieß es. Es gibt eben immer Spannungen, wenn Menschen an einem Ort gleichzeitig arbeiten und Spaß haben. Ich winke dem Kranfahrer zu. Er winkt freundlich zurück.
Der freundliche Schleusenwärter an der Oberbaumbrücke
Hinter der Rummelsburger Bucht taucht sie auf, die Oberbaumbrücke. Ich drehe eine Kurve unter den sechs Füßen des Molecular Man, stählerne Männer, 30 Meter hoch. Das gibt Mut, einzubiegen zur Schleuse. Alleine mal dafür hat sich die Reise gelohnt. Das wäre übrigens in vier Stunden zu schaffen, mit Rückweg zum Müggelsee.
Vor dem Häuschen an den Schleusentoren lege ich an. Eigentlich sieht es hier freundlich aus, wie ein ländlicher Bahnübergang mit Stellwerk. Gar nicht finster. Dann sehe ich ihn: Der Schleusenwärter am Stellpult. Kurze Haare, breite Schultern. Ich ergebe mich in mein Schicksal, klopfe. Verwundert schaut mich der Mann an, öffnet die Tür. Er fragt, ob ich die Gegensprechanlage am Anleger nicht gesehen hätte.
Ich entschuldige mich für alles. Angefangen damit, dass ich überhaupt da bin. Und dann eine Überraschung: Der Mann ist freundlich. Der erste Wassermensch, der wirklich etwas erklärt. Ohne dass man Fragen stellen muss wie in einem Verhör. Ausgerechnet der Schleusenwärter, vor dem ich so viel Angst hatte. Auch wenn mein Problem gleich noch komplexer wird.
Zu viel PS um Kanal in beide Richtungen befahren zu dürfen
Er erzählt mir, dass die Befestigungen des Kanals marode seien. Auch, weil Baumwurzeln gegen sie drückten. Und dass es Naturschützer gebe, die sich für den Erhalt der Bäume einsetzten. Und dass es ein Kompromiss sei, den Landwehrkanal seit einiger Zeit nur in eine Richtung zu befahren. Klar, denke ich, für die Touristenboote ist das ja kein Problem, die können auf der Spree zurück. Mit einem Steuerzahler-Hobbyskipper wie mir können sie es ja machen, mich wegschicken.
Dann fragt der Schleusenwärter: „Wie viel PS haben Sie denn?“ Ähm, ich glaube acht PS, sage ich. Sein Blick ist milde. „Könnte auch gedrosselt sein, der Motor?“ Ja, kann sein, sage ich. Es fahre nur langsam. So ist das also: bis fünf PS darf man den Landwehrkanal in beide Richtungen befahren. Ganz legal. Ein solches Boot hätte ich mir besorgt, wenn mir das jemand erklärt hätte. Nun habe ich drei PS zu viel, aber einen Motor, der vermutlich gedrosselt ist.
Die lässigen Kreuzberger am Landwehrkanal
Was nun? Der Wärter wird mich durchlassen. Er sagt, ich könne über den Neuköllner Kanal zurück, dort gebe es eine Schleuse, die auf Knopfdruck öffnet. Er ermahnt mich, kein Risiko einzugehen. Es sei viel Polizei unterwegs. Langsam gleite ich zum Landwehrkanal. Die lässigen Kreuzberger sitzen auf Bänken, schauen mich an. Ich bin gestresst.
Ich erreiche die Wasserkreuzung mit dem Neuköllner Kanal und schaue hinein. In den fiesen Landwehrkanal. Vor meiner Fahrt habe ich ihn ja noch gemocht. Nun muss ich hier eine wichtige Entscheidung treffen. Fahre ich rein? Nein, ich breche ab. Biege links in den Neuköllner Kanal. Der wird mich zum Müggelsee zurück bringen. Vorbei an vielen Graffitis unter der Sonnenallee hindurch. Und unter der geschwungenen Auffahrt der Autobahn.
Ich bleibe einen Moment unter der Brücke stehen und lausche dem Summen über mir. Vorbei an Schrottbergen geht es zur nächsten Schleuse. Die fahre ich selbstbewusst an. Man muss nur an einer grünen Stange ziehen, der Rest passiert automatisch. Das ist so einfach, wie eine Autowaschanlage zu bedienen. Genau, denke ich. Freie Fahrt für freie Bürger.
Die Erhabenheit der Berliner Spree
Dann lerne ich den Teltowkanal kennen. Schnurgerade, links und rechts Büsche. Daneben die Autobahn. 120 Kilometer pro Stunde fahren die Autos, ich zwölf Kilometer pro Stunde. Die Strecke scheint endlos. Nervös schaue ich auf mein Handy, ob der Akku noch stark genug ist, man weiß ja nie.
Eine Stunde später bin ich wieder auf der Spree. Was habe ich diesen Strom immer belächelt, dieses Sumpfflüsschen. Doch nach dem Teltowkanal ist die Spree erhaben wie eine Königin.
Es ist 18 Uhr, beim Bootsverleih hat die Abendschicht angefangen. Ein anderer Mitarbeiter als am Morgen empfängt mich. Ich hätte da Fragen zum Landwehrkanal, sage ich. Dass man da ja doch in beide Richtungen fahren dürfe mit fünf PS. „Klar, darf man“, sagt der Mann. „Aber mal ehrlich, das wollen Sie gar nicht.“ Dort schippere man Ausflugsschiffen hinterher und atme Diesel ein. Außerdem, so der gut gelaunte Mitarbeiter weiter, hätten sie Angst um ihre Boote, wenn Kunden dort reinführen.
Ich frage noch mal: Aber erlaubt wäre es? Ach, sagt der Mitarbeiter, jetzt falle ihm ein, dass sie kürzlich die Drosselung aus den Motoren entfernt hätten. Da gelte seit dieser Saison ja eine neue Bestimmung. „Aber viel schneller fahren die Boote trotzdem nicht“, sagt er. Aha. Ich zahle 110 Euro, für Boot und Diesel. Und gehe. Ich versuche, das entspannt zu sehen.
Am Ende lockt doch der Touristendampfer
Tatsächlich gibt es eine neue Regelung, die seit dieser Saison greift. Man darf neuerdings größere Motoren ohne Führerschein fahren. Das lese ich nun auf „ELWIS“, dem „Wasserstraßen-Informationsdienst“, für den ich mich neuerdings interessiere. Eine sehr komplexe Seite für Experten. Vielleicht sollte der Bootsverleih besser mal einen Warnhinweis zum Landwehrkanal auf seine Wasserkarte schreiben, denke ich.
Am Müggelsee hört man jedenfalls von einem Kunden, der kürzlich um halb eins Uhr nachts zurückgekommen ist. Vielleicht ist er in Kleinmachnow gelandet. Wer vom Osten möglichst weit nach Westen fahren will, muss also auf seine PS-Zahl achten oder mit dem Ruderboot fahren. Oder es einfach so machen, wie ich am nächsten Tag, als ich mir den Traum doch noch erfülle, weiter westlich zu fahren als die Oberbaumbrücke: Am Anleger vor der East Side Gallery legen ständig Touristendampfer ab.