Früher blieb man unter sich, heute trauen sich Kreative über den Fluss ans Ufer: Der Mierendorff-Kiez ist ein Bollwerk der Zeitlosigkeit.
Über neun Brücken kann man auf die künstliche Insel zwischen Spree und Charlottenburger Verbindungs- und Westhafenkanal, den Mierendorffkiez, gelangen. Diese gute Verbindung zum „Umland“ lässt eine gewisse Bedeutung des städtischen Eilandes vermuten, das Heimat für knapp 15.000 Charlottenburger ist.
Mit der Auto-Woge, mit der man über die Schloßbrücke zum Tegeler Weg in Richtung Stadtautobahn gespült wird, driftet man rechts ab über die Mierendorffstraße, strandet zunächst unsanft am Mierendorffplatz – und reibt sich verwundert die Augen: Es ist wie eine Zeitreise, eine Entdeckungstour in unbekanntem Terrain, in einer touristenfreien Zone bar jeglicher Sehenswürdigkeiten, wahrlich nicht herrschaftlich – und das nur wenige Hundert Meter entfernt vom Besuchermagnet Schloss Charlottenburg. So heißt der Hauptweg zur Insel auch Schloßbrücke. Die ist mehr Transitstrecke, vereint aber nicht, was nicht so recht zusammengehört.
„Früher“, erzählt ein Kollege, der im Nebenerwerb Wirt ist, „früher blieben die von der Mierendorff-Insel unter sich, besuchten nur die Kneipen auf ihrer Seite des Flusses. Und die vom Charlottenburger Ufer kamen auch nicht rüber.“ Mittlerweile sei das anders. Tagsüber kaum, hat man den Eindruck, wenn man in das vermeintliche Herz der Insel vorstößt, die Gegend um den Platz. Dort gibt es zwar eine Jugendkunstschule und eine Außenstelle der Universität der Künste, aber prägend für das Stadtbild sind die jungen Menschen nicht. Sie treffen sich vor dem Seminargebäude, rauchen eine Zigarette, verschwinden in die Unterrichtsräume und anschließend wieder dorthin, wo „wirklich etwas los ist“, wie Tobias, 21, sagt.
Schmuckstück ist die Parkanlage Mierendorffplatz
Auf dem Mierendorffplatz gibt es zwei Mal in der Woche einen Wochenmarkt, Mittwoch und Sonnabend von 8 bis 13 Uhr. „Der war mal eine Institution und ein beliebter Treffpunkt im Kiez“, sagt Astrid Scheld, die Chefin vom Kiezbüro, die seit Anfang der 90er-Jahre an der Mindener Straße wohnt. Die Discounter, die in den vergangenen Jahren eröffnet wurden, haben dem Inselmarkt das Wasser abgegraben. Zumindest am Mittwoch herrscht dort nahezu gähnende Leere zwischen den etwa ein Dutzend Ständen.
Der Fischhändler klagt, der Obsthändler jammert. „Früher war hier richtig viel los, da gab es kaum einen freien Platz, selbst Butter Lindner war vertreten“, sagt der Fischhändler. So ganz kann Ingrid Koeppen, 79, aus Eberswalde den Frust ihrer Kollegen nicht verstehen. „Ich bin seit 1990 mit meinem Obst- und Gemüsestand hier, die Umsätze haben sich kaum verändert. Offensichtlich haben nur immer weniger Händler Lust, sich bei Wind und Wetter auf den Markt zu stellen.“
Sie selbst steht an Markttagen um 4 Uhr auf, um pünktlich mit der frischen Ware in der Hauptstadt zu sein. „Ich lebe von den treuen Stammkunden und bleibe, bis ich umfalle“, sagt sie. Auf dem Markt treffen sich nur noch wenige Menschen, sie stehen an einem ungenutzten Markttisch, essen eine Currywurst. Eine zur kostenlosen Buchausleihe umgebaute Telefonzelle fungiert als „Bücherboxx“. Zusammen mit einer Schenkbox mit Ausrangiertem für Bedürftige säumt sie den Handelsplatz in seinem ruhigen, aber etwas ungepflegten Umfeld.
Das Schmuckstück der Gegend ist zweifellos die Parkanlage Mierendorffplatz. Dort streichen am Vormittag Frank und René bedächtig die Parkbeleuchtung. Einer streicht, einer hält die Leiter. Eilig haben sie es nicht. „Wir haben Zeit und mittags Feierabend.“ Die Arbeit rennt ja nicht weg. Und Eile ist hier fehl am Platz, der bereits bei der Planung des Wohnviertels für einfache Leute 1887 berücksichtigt wurde. 1912/1913 wurde der Park nach Entwürfen von Erwin Barth angelegt. Im östlichen Teil ein Spielplatz, im Westen ein Blumengarten, in der Mitte ein Springbrunnen, umgeben von Platanen. Man trifft dort Künstler, Lebenskünstler und gelegentlich auch Drogenhändler.
Schicke Häuser, aber kein Chic
Den sprichwörtlichen Charlottenburger Chic gibt es rund um den Mierendorffplatz nicht, gab es dort wohl auch nie, obwohl viele Häuser durchaus ansehnlich und von respektabler Höhe sind. Lediglich mittags belebt sich die Gegend, wenn Mitarbeiter des Wirtschaftsprüfungsunternehmens PwC ihren spiegelverglasten Büroneubau verlassen und sich zum Lunch unter das Volk mischen. Dann keimt für kurze Zeit Hoffnung auf bessere Zeiten auf. Aber die Wirtschaftsprüfer ziehen im kommenden Jahr an den Hauptbahnhof. Ein weiterer herber Schlag für die Wirte und Geschäftsleute im Kampf ums Überleben.
„Früher war die Gegend mal richtig gut“, sagt Klempnermeister Peter Schwarzwälder, 57, der mit seinem Bruder Fritz, 59, an der Mierendorffstraße 25 seit 1980 das Familienunternehmen mit mehr als 100-jähriger Tradition führt. Sehenswert ist dort das Schaufenster mit etwa 200 internationalen „Objekten zur Verrichtung menschlicher Notdurft“ aus knapp 600 Jahren. „Ham’se für den Hahn noch ’ne Dichtung“, fragt ein Mitsiebziger den Chef hinterm Tresen. Peter Schwarzwälder hat. Das ist eine der Stärken des Handwerksbetriebs, dass es dort noch Kleinteile gibt, die anderswo nicht mehr zu bekommen sind. „Das war früher eine Domäne dieser Gegend“, sagt Schwarzwälder. Der Kiez war bekannt für seine vielen kleinen Geschäfte mit Ersatzteilen, Eisenwaren und Holzartikeln. Heute stehen viele der Läden an der Kaiserin-Augusta-Straße oder der Tauroggener Straße leer oder es haben sich dort Spielsalons, Wettbüros und Croissanterien niedergelassen.
Doch die allerorts in der Stadt herrschende Wohnungsknappheit könnte die Mierendorff-Insel schon bald aus ihrem Dornröschenschlaf reißen und die prächtig-breite, von Platanen gesäumte Kaiserin-Augusta-Allee zur beliebten Wohnadresse machen. Unweit davon ist der Wandel bereits sichtbar, im weitgehend sanierten Harzer Viertel. Dort ziehen immer mehr jüngere Mieter ein, sagt Uwe Negengert, 52, der seit 1999 an der Nordhauser Straße 1 das Büro seiner Firma für Abwasser- und Umwelttechnik hat: „Ich wohne noch am Klausenerplatz, werde aber bald hierherziehen, weil die Gegend einfach ruhiger und die Mieten günstiger sind.“
Abgeschieden, mit frischer Brise
Überhaupt zögen in den Kiez immer mehr Kreative, sicher auch angezogen durch den Ruf der Gegend als Kunst-Insel mit zahlreichen Malern, Grafikern, Schmuckgestaltern, Fotografen und Bildhauern, die rund um den Mierendorffplatz wohnen und arbeiten. Zu denen gehört seit vier Jahren auch Britta Schürmann, 43, die mit ihren bunten Acrylmalereien den Kiez farbenfroher macht. Für die gebürtige Lüneburgerin ist die Gegend „Ruhepol und ein Ort mitten in der Großstadt zum Entschleunigen“. Und was das Miteinander der Künstler betrifft, ist sie überzeugt: „Es tut sich etwas.“
Hoffnung auf bessere Zeiten machen auch die recht schicken Neubauten entlang der Sömmeringstraße vis-à-vis dem neu angelegten Österreichpark an der Caprivibrücke. Dorthin hat es schon jede Menge Neu-Mierendorffer auf die Insel gespült. Die genießen die Abgeschiedenheit in Citynähe, sitzen abends an der Spree, wo sie bei einer frischen Brise den Ausflugsdampfern hinterherschauen können. Einige sitzen auch am ruhigen, verwilderten Goslarer Ufer mit Blick über den Fluss auf Moabiter Neubauten.
Optimisten und Kiez-Enthusiasten wie Thomas Krätschmer, 47, der an der Kaiserin-Augusta-Allee 47 gemeinsam mit seiner Frau ein Geschäft als Bootsausstatter betreibt, sehen die Gegend ohnehin auf gutem Kurs: „Es gibt hier genug tolle Menschen, die sich engagieren und die Gegend besonders machen.“ Er ist sicher, der Kiez wird wieder mehr von sich reden machen. Spätestens am 23. August, wenn Tausende Schaulustige über eine der neun Brücken zum Drachenbootrennen am Tegeler Weg auf die Mierendorff-Insel strömen.
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