Die ehemalige Schmargendorfer Zigarettenfabrik von Reemtsma in Wilmersdorf ist seit vielen Jahren verlassen. Ein Rundgang.

Aus einem Raum im Verwaltungsgebäude dringt furchbares Geschrei. Eine junge Frau mit blauem Kapuzenpullover und geballten Fäusten brüllt jemanden an, den die nur einen Spalt offen stehende Tür verdeckt. Aus dem Nachbarzimmer dringt lautes Wehklagen. Es ist nicht mehr alles so, wie es einmal war, auf dem Gelände der ehemaligen Schmargendorfer Zigarettenfabrik.

Von Schauspielschülern, die an diesem Tag in einstigen Büros gut hörbar ihre Bewerbungsvorstellungen geben bis zu „Tatort“-Dreharbeiten in gruselig-ausgeschlachteten Werkhallen – das 75.000 Quadratmeter-Areal ist derzeit auf Zwischennutzung eingestellt. Und wartet darauf, von einem vergessenen Quartier zu einem lebendigen neuen Kiez im Zentrum der Stadt zu werden.

Ehemalige Schmargendorfer Zigarettenfabrik

Nach kurzem Aufenthalt im Bürobau am Werkstor spürt man den bitteren Geschmack. Seit 1959 verarbeiteten an der Mecklenburgischen Straße 32 zu Bestzeiten 1.300 Reemtsma-Angestellte reinen Tabak. Von dort kamen „Peter Stuyvesant“ und „West“. Das schmeckt man noch immer. „Der Staub der Nachbarhalle hat sich überall verbreitet“, sagt Silvia Rachor.

Schauspielschüler beim Tanzunterricht mit Dozentin Raliza van Oijen (2. v.li.)
Schauspielschüler beim Tanzunterricht mit Dozentin Raliza van Oijen (2. v.li.) © Amin Akhtar | Amin Akhtar

Sie ist die künstlerische Leiterin der 2005 gegründeten Filmschauspielschule Berlin. Als ihr Vermieter in Charlottenburg eine 50-prozentige Mieterhöhung ankündigte, suchten Rachor und ihre Kollegen einen neuen Standort und fanden ihn auf dem Areal neben der Stadtautobahn. „In diesem Haus gab es keine Heizung mehr“, sagt sie. „Also stellten uns die Eigentümer einen Gasbehälter vor die Tür und installierten Wärmekörper.“

Bis auf dem Gelände die Bagger rollen

Der Zuzug ihrer Schule ist typisch für den Schwebezustand auf dem Gelände. Hausherr Stephan Allner (54) vergibt derzeit Mietverträge für maximal drei Jahre. Der Geschäftsführer des Eigentümers „Wohnkompanie“ überbrückt die Zeit, bis auf dem Gelände die Bagger rollen. Erstes Projekt soll ein fünfgeschossiges Rechenzentrum mit 12.000 Quadratmeter Nutzfläche sein, eine Zentrale also für Computer und Speicherplatz. 2017 sei voraussichtlich Baubeginn, so Allner. Momentan vermietet er an 21 Unternehmen.

Noch allerdings muss man nach Lebenszeichen auf dem Gelände suchen. Leicht verliert man sich im unübersichtlichen System von Hallen, die ineinander übergehen, auf mehreren Etagen liegen, und doch identisch aussehen. Denn was sie einmal voneinander unterschied, ist fort. Es fehlen die Maschinen. Eine letzte Strecke Fließbänder hat Allner jüngst nach Rumänien verkauft. Jetzt wirken die Räume wie Parkhäuser ohne Autos: niedrige Decken, offene Belüftungsrohre, Betonsäulen, reflektierende Böden. Manchmal bergen sie Überraschungen. „Keine Ahnung, warum hier Parkett liegt“, sagt Allner etwa, als es durch eine Halle geht, in der sich der vernachlässigte Holzboden in Wellen hebt.

Am Ende des nächsten Saals – man muss zwei Mal hingucken, so unwirklich ist der Anblick im Halbdunkel – steht ein halbes Dutzend Oldtimer mit einem Wert von mehreren 100.000 Euro, zum Beispiel ein Rolls Royce in Silber und Braun mit grau-lederner Sitzgarnitur und dem Steuer auf der rechten Seite. Ein Stück weiter: ein Porsche 911 Carrera in Knallrot. So dient Allners Areal auch als wohl außergewöhnlichster Dauerparkplatz Berlins.

Die ehemalige Druckerei
Die ehemalige Druckerei © Amin Akhtar | Amin Akhtar

Am Rand eines Raums ist ein Holzboot mit kleiner Kajüte abgestellt. In der Halle daneben schrauben Mechaniker seit einem Jahr an einer zuvor noch schrottreifen Maschine, einem zehn Meter langen grünen Ungetüm hinter Plastikplanen, die aus acht Meter Höhe herabhängen. Bis Dezember wird der Apparat wieder in der Lage sein, Schulhefte herzustellen und ganz altmodisch mit weißen Fäden zu binden. „Der Besitzer verkauft sie dann für viel Geld nach Asien“, sagt Allner.

In einem anderen Winkel betreibt ein Caterer seine Küche. Ein Tonstudio nimmt mit namhaften Schauspielern Hörbücher auf, Til Schweiger und Matthias Schweighöfer drehten dort jüngst für den aktuellen Kinohit „Vier gegen die Bank“, und eine Fernsehkrimi-Reihe nutzt die Räume unter der Schauspielschule als Kulisse ihres Landeskriminalamtes. „Bei jeder Begehung stoße ich auf etwas Neues“, sagt Allner. „Einmal war es ein Raum voller Weihnachtsdekoration, ein anderes Mal entdeckte ich unzählige Tonbänder mit 70er-Jahre-Schlagermusik. Offenbar waren die noch von Reemtsma-Betriebsfesten übrig geblieben.“

Moderne Ideen für einen alten Industriestandort

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Nach 53 Jahren verkaufte der Zigarettenhersteller 2012 sein Werk. 2014 wurde die Wohnkompanie Eigentümer. Das Unternehmen ist für Renommierobjekte wie die zwei Wohntürme „Max & Moritz“ in Friedrichshain und die Dahlemer Reihenhaussiedlung „Oskar Helene Park“ bekannt. Doch in Wilmersdorf wird es nichts mit der Errichtung von Wohnungen in bester Citynähe. Der Bebauungsplan weist das Reemtsma-Gebiet als Industrie- und Gewerbefläche aus. „Dabei sagt die Stadt immer, man brauche bezahlbaren Wohnraum“, kommentiert Allner ärgerlich.

Als Marc Schulte 2016 noch SPD-Stadtentwicklungsstadtrat von Charlottenburg-Wilmersdorf war, erklärte er dagegen, Allners Unternehmen habe beim Kauf darauf spekuliert, daraus ein Wohngebiet zu machen. Einer Änderung des Bebauungsplans, wie ihn die Wohnkompanie laut Allner für einen Randteil des Gebiets beabsichtigt, gab Schulte wenig Chancen.

Wo das Stadtleben auch nach Dienstschluss nicht endet

In den aktuellen Entwürfen sieht das Gelände aus wie ein Gewerbepark, in dem Stadtplätze, Gastronomie, ein Hotel und Geschäfte dafür sorgen sollen, dass das Stadtleben für Mitarbeiter und Anwohner auch nach Dienstschluss nicht endet. Vorgesehen sind vier- bis 28-stöckige Gebäude und eine neue Fahrbahn zwischen Forckenbeck- und Mecklenburgischer Straße. Als Nutzer zielt man auf Unternehmen moderner Berliner Schwerpunktbereiche wie IT, Biotechnologie und Elektromobilität ab. Das reicht vom Laborbetrieb bis zum Hersteller von Prototypen. „Wir schätzen, dass in den nächsten fünf bis zehn Jahren auf dem Gelände mindestens 450 Millionen Euro investiert werden“, sagt Allner. Binnen drei Jahren ließen sich Baugenehmigungsverfahren und Vermarktung abschließen, rechnet Allner vor.

Zum Jahresende immerhin kam so viel Leben in seine Hallen, wie lange nicht. Als Veranstaltungsort für Weihnachtsfeiern war das Reemtsma-Gelände bestens gebucht.