Zehn Wochen nach den tödlichen Schüssen auf einen Berliner Steuerberater und Rechtsanwalt hat die Polizei am Dienstag den 16 Jahre alten Sohn des Opfers verhaftet. Der Jugendliche stehe unter dringendem Tatverdacht. Er wurde vor seinem Wohnhaus im Stadtteil Westend verhaftet, nachdem die Ermittlungen neue Indizien und Zeugenaussagen ergeben hätten, teilte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft mit.
Gleichzeitig würden die polizeilichen Ermittlungen gegen die Witwe und den älteren Bruder des Verhafteten andauern, hieß es. Nähere Einzelheiten zum Stand des Ermittlungsverfahrens wurden nicht genannt. Der 49-jährige Ingo W. war, wie berichtet, am 12. August in seiner eigenen Kanzlei von einem bisher Unbekannten mit einer Pistole niedergeschossen und tödlich verletzt worden. Die Tatwaffe ist nach wie vor verschwunden.
Mehrere Stunden lang hatten Beamte eines Mobilen Einsatzkommandos der Polizei das Wohnhaus am Dienstag beobachtet, bevor sie gegen 13.30 Uhr den 16-jährigen Manuel L. (Name geändert) verhafteten, als dieser gerade das Haus verließ. Offenbar wollte die Polizei mit diesem Vorgehen vermeiden, die Festnahme im Beisein der Mutter und Witwe des Opfers an der Wohnungstür vorzunehmen.
Denn sie war nach Morgenpost-Informationen zum Zeitpunkt des Zugriffs ebenfalls zu Hause.
Indizien weisen auf Familientragödie hin
Mit der Verhaftung des Teenagers wegen Mordverdachts an seinem Vater scheinen sich die Vermutungen auf eine Familientragödie endgültig zu bestätigen. Der 16-Jährige war, wie sein zwei Jahre älterer Bruder, bereits wenige Stunden nach dem tödlichen Anschlag in seiner Wohnung in Westend festgenommen worden. Allerdings hatten weder die Ergebnisse der Ermittlungen noch die Spurenlage damals ausgereicht, um einen Haftbefehl erwirken zu können. Dies hat sich inzwischen geändert, auch wenn sich die Ermittler über die Hintergründe der neuesten Entwicklung bislang noch ausschweigen.
Neue Aussagen von Zeugen sowie zusätzliche Indizien hätten jedoch dazu geführt, dass die Staatsanwaltschaft zweieinhalb Monate nach dem Kapitalverbrechen an Ingo W. Haftbefehl gegen den jüngsten Sohn beantragt hat. „Das ist filigrane Arbeit gewesen“, sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Martin Steltner. Die Ermittlungsergebnisse hätten sich zu einer neuen Beweislage verdichtet. Ungeachtet dessen werden die Ermittlungen gegen die frühere Ehefrau des Opfers und ihren 18 Jahre alten Sohn Tim (Name geändert) fortgeführt, ergänzte Steltner. Manuel sollte nach seiner Festnahme ausführlich vernommen werden. Anschließend droht dem 16-Jährigen die Überstellung in ein Untersuchungsgefängnis.
Am Morgen des 7. Oktober, acht Wochen nach dem Mord an dem 49-jährigen Ingo W., hatten 20 Polizeibeamte und Spürhunde das Wohnhaus der Familie und die Steuerkanzlei überraschend ein zweites Mal durchsucht. Neben Unterlagen war dabei eine braune Aktentasche sichergestellt worden. Der Witwe wurden an diesem Tag Fingerabdrücke abgenommen, ihr jüngster Sohn Manuel musste eine Speichelprobe abgeben. Dies hatte der 16-Jährige bis zu diesem Tag immer abgelehnt. Möglicherweise hat die entnommene DNA-Probe die Ermittlungen einen entscheidenden Schritt weitergebracht. Die bei der Tat benutzte Neun-Millimeter-Pistole konnte bei den Durchsuchungen jedenfalls nicht entdeckt werden. Ihr Verbleib ist bis heute weiter ungeklärt.
Desolate Familienverhältnisse
In der Nachbarschaft in Westend war die Verhaftung des 16-Jährigen natürlich ein Gesprächsthema. Eine Anwohnerin berichtete, sie hätte Manuel L. vormittags noch auf der Straße gesehen. Er soll einen Stuhl in die Kanzlei getragen haben. Bei aller Tragik der Geschehnisse sei sie auch „irgendwie froh, wenn irgendwann endlich einmal Klarheit über die Umstände des Mordes“ herrschen würde, sagte die Frau. Sie beschrieb sowohl den 16-Jährigen als auch dessen älteren Bruder als „höflich und wohlerzogen“. Der 18-jährige Tim L. soll erst vor wenigen Tagen von einem Aufenthalt aus Frankreich nach Berlin zurückgekehrt sein, wussten andere Anwohner am Dienstag zu berichten. Eine Nachbarin sagte, sie habe Manuel L. vor dem Mord in der Anwaltskanzlei dabei beobachtet, wie der Jugendliche auf einem Balkon stehend mit einer Luftdruckwaffe auf Kastanien gezielt habe.
Unmittelbar nach dem Mord hatten in der Steuerkanzlei anwesende Mitarbeiter ausgesagt, dass nach den Schüssen ein junger Mann mit Kapuzenjacke die Büroräume verlassen habe. Drei Angestellte hatten sich zur Tatzeit in der Kanzlei aufgehalten, deren Aussagen fielen jedoch widersprüchlich aus. Die Ehe des Getöteten galt bereits länger als gescheitert. Ingo W. war Weihnachten 2012 aus der Wohnung ausgezogen und hatte vorübergehend eine Gartenlaube bewohnt. Er hatte eine neue Lebensgefährtin, was die familiären Spannungen zusätzlich angeheizt haben soll. So hatten sich der Vater und der ältere Sohn nach einem Streit im Frühjahr gegenseitig angezeigt.