Berlin. Sonja Jost ist oft ausgezeichnete Firmen-Gründerin und Pionierin für grüne Chemie. Sie hält den Gründergeist in der Stadt für lebendig.

„Arm, aber sexy“, so beschrieb Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit in den 2000-er Jahren die Lage der Stadt. Inzwischen hat sich viel geändert. Berlin ist wohlhabender geworden, auch teurer. Von der neuen Gründerzeit, die ein bisschen an die Epoche vor 125 Jahren erinnert, zeugen nicht nur die Hochhäuser am Ostbahnhof, wo ein einstiges Start-Ups wie der Online-Modehändler Zalando sein Hauptquartier aufgeschlagen hat. Allein die Digitalwirtschaft beschäftigt gut 120.000 Menschen in der Hauptstadt.

Aber wie gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als der Boom nach der Reichsgründung von 1870 vorbei war, hat sich auch heute die Dynamik abgeschwächt. Zwar werden in der Stadt immer noch viele Unternehmen gegründet, aber weniger als vor ein paar Jahren. Berlins Wirtschaft muss also auch heute wieder neue Wege einschlagen, auch wenn Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) die Hauptstadt mit einem erwarteten Plus von anderthalb Prozent angesichts der bundesweiten Rezession als „Wachstumsmotor“ in Deutschland bezeichnet.

Sonja Jost hilft Chemie- und Pharmafirmen, ressourcenschonender zu produzieren

Sonja Jost ist seit Jahren eine der profiliertesten Vertreterinnen der Berliner Start-Up-Szene, gilt weit über Berlin hinaus als Pionierin und Verfechterin der Grünen Chemie. Sie hat selbst Unternehmen hochgezogen, die große Chemie- und Pharmakonzerne helfen, ihre Produktionsprozesse ressourcenschonender auszurichten und die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen. Zusätzlich engagiert sie sich seit Jahren ehrenamtlich in der Startup Szene, etwa für die EU-Kommission als Mitglied ihres EIC-Accelerators, als Botschafterin von Deutschland-Land-der-Ideen oder als Vizepräsidentin der Industrie- und Handelskammer.

Die Diplom-Ingenieurin erkennt nach wie vor einen ganz eigenen Gründergeist in Berlin. „Definitiv gibt es den“, sagt Jost im Gespräch im grünen Hinterhof neben der Remise in Mitte, die ihre Firma DUDECHEM beherbergt. Aber der Fokus habe sich über die letzten zehn Jahre verändert. Inzwischen widmeten sich mehr Gründer so genannter „Deep Tech“, also komplexen technologischen Themen wie etwa der grünen Chemie. Vor einigen Jahren sei das anders gewesen. „Die ganze Stadt war im Bann der medial präsenten Start-Up Szene aus der Internet-Bubble, da war es schwierig, auch Investoren für andere Dinge zu öffnen.“ Heute redeten fast alle darüber, sie würden auch in Deep Tech investieren.

Die Unternehmerin hält manche digitale Geschäftsmodelle für nicht nachhaltig

Geschäftsmodelle, die darauf basieren, Menschen jeden Tag Dinge zuzuschicken, ohne dass sie mehr bezahlen müssten, sieht sie skeptisch, da die Unternehmen dadurch rote Zahlen schrieben. „Ich bin mir allerdings sicher, dass dies am Ende der Markt regeln wird. Keine Investoren wollen langfristig Geld verbrennen.“

Das sichtbarste Zeichen des Start-Up-Booms der vergangenen Jahre: Die Firmenzentrale des Online-Modehändlers Zalando an der Mercedes-Benz-Arena.
Das sichtbarste Zeichen des Start-Up-Booms der vergangenen Jahre: Die Firmenzentrale des Online-Modehändlers Zalando an der Mercedes-Benz-Arena. © Hines | Hines

Einen ökonomischen Rückfall Berlins fürchtet sie jedoch nicht. „Zusätzlich gibt es hier inzwischen sehr viele Akteure, die sehr viel Know-how haben“, sagt sie. Früher habe es noch eine Art „Wildwest-Mentalität mit dem Internet“ gegeben. Jetzt würden bei Gründungen die Geschäftsmodelle komplexer, es gehe stärker um Patente und geistiges Eigentum, die Geschäfte liefen zwischen Unternehmen und weniger mit den Endkunden.

Die niedrig hängenden Früchte seien weitestgehend abgeerntet, Dafür sei es aber bei den neuen Firmen nicht mehr so leicht, die Geschäftsmodelle zu kopieren, wie das beim Konkurrenzkampf der Lieferdienste zu beobachten sei. Das führe zu nachhaltigeren Unternehmen.

Es kommt auf das Zusammenspiel von Grundlagenforschung und Inkubatoren an

Beim Zusammenspiel von universitärer oder außeruniversitärer Forschung und den Fähigkeiten privater Inkubatoren, aus Erfindungen Innovationen und dann Start-Ups zu machen, sieht die Fachfrau noch viel Potenzial. „Ideen, die zu bahnbrechenden neue Unternehmen führen können, sind oft Dinge, die über Jahrzehnte in Forschungsinstituten entwickelt wurden“, sagt sie. „Das kann kein privater Start-Up-Inkubator leisten, wo soll da die Innovationstiefe herkommen?“

Aber diese Zentren, von denen es in der Stadt inzwischen ziemlich viele gibt, hätten sich ihren Platz im Ökosystem erarbeitet. Sie wüssten, was Investoren wollen und seien „teilweise extrem gut darin, Gründer fit zu machen, damit sie auf internationalem Parkett mitspielen können“. Da ließe sich noch mehr rausholen.

Wohnungsmangel, hohe Preise: Für Gründer ist es „signifikant schwieriger“ geworden

Die gestiegenen Lebenshaltungskosten und der Wohnungsmangel bremse aber natürlich auch die neue Start-Up-Szene. „Es ist signifikant schwieriger geworden, gerade für kleinere Start-Ups“, sagt Jost. Negativ findet sie zudem, dass in der Stadt die Infrastruktur für Deep-Tech-Gründer, also vor allem Labors, „nach außen geschoben“ werde. Es sei schwierig, international attraktiv zu sein, wenn sich die Start-Up-Szene gleichzeitig in Mitte und Prenzlauer Berg tummele. Ohnehin fehlten Labors in Berlin, die Gründer zu günstigen Konditionen nutzen können.

Insgesamt ist sie überzeugt, dass Berlin mit seinen Universitäten und Wissenstransfer-Organisationen noch systemischer vorgehen müsste. Der erfolgreichste Deep-Tech-Fonds der Welt gehöre zur Universität von Tokio. „Die scouten und investieren weltweit und schauen gezielt, welche innovativen Start-Ups eine Beziehung zur japanischen Wirtschaft haben. „So etwas brauchen wir auch in Berlin, da muss der Senat ran“, so Jost.

An der TU regnete es schon zu ihrer Zeit durch die Decken

Sie hatte an der Universität jahrelang in einem Labor gearbeitet, wo es durch die Decke tropfte. Immer noch sei der bauliche Zustand vieler Hochschulen miserabel. Den Investitionsstau an den Universitäten gebe es auch, weil zu wenig Geld dafür da sei. Mehr Einnahmen zu erzielen, die dann an auch in die Universitäten fließen könnten, sei nur möglich, wenn die mit dem Wissen aus den Hochschulen gegründeten Unternehmen auch wachsen können. Generell bräuchte man auch mehr Engagement von wohlhabenden Berliner Privatleuten und Unternehmen, sich stärker als Investoren in diesem Zukunftssektor zu engagieren.

Es sei auch für Deep-Tech-Unternehmen möglich, groß zu werden, ist sie überzeugt. „Es gibt in den USA die ersten Green-Chemistry-Unicorns, sagt die Kennerin des Marktes. Als „Einhörner“ werden Start-Ups bezeichnet, die mit mehr als einer Milliarde Dollar bewertet werden. In Europa gebe es nichts vergleichbares.

Deutschland drohe zu verpassen, dass „überall auf der Welt komplett Neues entsteht“

In Deutschland sei aber versäumt worden, die Rahmenbedingungen für ein solches Wachstum zu schaffen, beklagt Sonja Jost. „Wir dürfen nicht nur die alte Industrie transformieren. Wir müssen eine neue aufbauen“, warnt die Gründerin. „Wir verpassen, dass überall auf der Welt etwas komplett Neues entsteht, nur nicht bei uns.“

Als Beispiel nennt sie die Debatte um verbilligten Industriestrom. „Kein Investor würde einem Gründer Geld geben für ein Geschäftsmodell, das einzig auf Energiesubventionen beruhte – ohne, dass man klar zeigen würde, wie man mittelfristig ohne Subventionen ein tragbares Geschäft aufbauen könnte“, warnt Jost.

Ein Beispiel aus der Chemie sei die in Deutschland entwickelte Synthese von Ammoniak, einem wichtigen Grundstoff der Chemieindustrie. Hierzulande werde darüber geredet, wie man die sehr energieaufwendigen Verfahren mit Temperaturen von mehreren 100 Grad und einem Druck von mehr als 150 Bar mit günstigerem oder grünem Strom betreiben könne. In Australien hätten Forscher aber inzwischen Ammoniak elektrochemisch hergestellt, bei Raumtemperatur und Raumdruck. „Natürlich dauert es noch bis zur Marktreife. Aber wir basteln hier zu sehr an den Infrastrukturen rum, ohne das System zu fixen“, sagt sie.

In Berlin, ist sie überzeugt, sind viele Neuerungen auch deshalb möglich, weil es hier wenig Altindustrie gebe, die junge Ingenieure mit hohen Gehältern wegfange. Das sei ein großer Vorteil für die Entwicklung von disruptiven Ideen – und zukünftigen Unicorns.