Am zweiten Montag im Oktober muss der jedes Mal heiß herbeigesehnte Spielplatzbesuch für den vierjährigen Sven aus Moabit leider ausfallen. Zwei bis dreimal pro Woche treffen sich Sven und Mama Heike mit drei anderen Müttern und deren Kindern, dann geht es auf den sämtliche Kinderwünsche erfüllenden Spielplatz im Kleinen Tiergarten. Doch an diesem Tag haben die Freundinnen kurzfristig abgesagt, und für Heike Schmelzer gilt: Nur in Gruppen, nie allein in den Park.
Ende September 2016 wurde die junge Mutter Zeugin, wie eine Gruppe junger Männer einen Passanten zusammenprügelte, weil der sich einfach nur geweigert hatte, Drogen zu kaufen. Und nur zwei Wochen später war sie mit einer Freundin in der Nähe, als sich rivalisierende Drogendealer eine Massenschlägerei lieferten. Beide Erlebnisse wirken bis heute nach.
Kurz nach der Dämmerung herrscht gähnende Leere
Von außen wirkt die Grünanlage zwischen Turmstraße und Alt-Moabit beschaulich und einladend. Und zumindest im östlichen Teil, der weitgehend wieder befriedet werden konnte, trügt der Eindruck nicht. Allerdings nur tagsüber. Schon kurz nach Einsetzen der Dämmerung herrscht gähnende Leere. Früher seien seine Gäste oft bis Mitternacht geblieben, berichtet Café-Betreiber Ayni Dajon: „Heute sind sie verschwunden, sobald es dunkel wird.“
Der Kleine Tiergarten steht seit Jahren für hohe Kriminalitätsraten, für Drogenhandel, Raub und Taschendiebstähle. Vor allem 2016 gab es einen dramatischen Anstieg der erfassten Delikte. Die Gesamtzahl der Straftaten stieg von 2193 im Vorjahr auf 2792. Und die Zahl der Drogendelikte vervielfachte sich im gleichen Zeitraum von 189 auf 689.
Wenn jemand die Zustände vor Ort genau kennt, dann Jürgen Ziplies. Der Erste Hauptkommissar leitet beim Polizeiabschnitt 33 die 4. Dienstgruppe, zuständig für den Kleinen Tiergarten und dessen Umgebung. Inzwischen gilt das Areal als kriminalitätsbelasteter Ort mit besonderen Rechten für die Polizei. Diese Rechte wurden konsequent genutzt, mit regelmäßiger Präsenz und häufigen Razzien. Ergebnis: Die Halbjahresbilanz 2017 lässt erwarten, dass der rapide Anstieg der Straftaten in diesem Jahr gestoppt werden kann. Und bei Ladendiebstahl, Raub und Taschendiebstahl zeichnet sich ein zum Teil deutlicher Rückgang ab.
„Den neuen Dealern fehlt noch der Kundenstamm"
Aber es ist schwierig, das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung mit grauer Statistik positiv zu beeinflussen. Das weiß auch Georg Thieme vom Geschäftsstraßenmanagement Turmstraße: „Gewerbetreibende berichteten häufig von einer Verunsicherung ihrer Kunden und Gäste“, erzählt er (siehe Interview). Deutlich wird das auch bei einem Besuch im „Bierbrunnen“. Dort erzählt ein Gast namens Leo, wie gerade erst an einer Bushaltestelle am Rande des Parks eine Touristin überfallen wurde.
Nein, Leo war nicht dabei, er weiß es von einem Freund und der wiederum von einem Kollegen. Am Wahrheitsgehalt der detailreichen Schilderung darf in einigen Punkten gezweifelt werden. Aber am Ende ist sich die ganze Thekengemeinde einig, dass man in einer gefährlichen Gegend lebt. Deren Hauptproblem bleibt weiterhin die Drogenkriminalität im kleineren, zwischen Heilandskirche und Stromstraße gelegenen Teil des Parks. Für 2017 wird eine weitere Steigerung erwartet.
Und die Brisanz der Szene ist gewachsen, denn die angestammten Dealer haben Konkurrenz bekommen. „Wir registrieren zunehmend Tatverdächtige aus den Maghreb-Staaten“, berichtet Ziplies. Der Drogenhandel wurde von Anwohnern jahrelang zur Kenntnis genommen, aber nicht weiter beachtet. Die Dealer blieben unauffällig im Park und warteten auf ihre Stammkunden. „Den neuen Dealern fehlt noch der Kundenstamm, sie bedrängen nahezu jeden, der ihnen entgegenkommt und das zum Teil hochaggressiv“, erzählt ein Drogenfahnder.
Besonders Frauen klagen über ständige Belästigungen
Problematisch wurde es auch, nachdem an der Turmstraße 2015 die zentrale Erfassungsstelle für Flüchtlinge des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (Lageso) eingerichtet wurde. Die bevölkerten monatelang den Park, schnell stiegen daraufhin vor allem die von Frauen erhobenen Beschwerden über ständige Belästigungen. Eine Busfahrerin der Linie 101, die lieber anonym bleiben möchte, bestätigt das. Die Haltestelle U-Bahnhof Turmstraße ist für sie Endstation, bis zur nächsten Runde hat sie Pause. „Die habe ich gern im Park verbracht, aber heute lasse ich das, kaum hat man sich auf eine Bank gesetzt, wird man schon angepöbelt“, berichtet die BVG-Fahrerin.
Zumindest hinsichtlich der Massen im Kleinen Tiergarten hat sich die Situation inzwischen entspannt. Durch Neugestaltungsmaßnahmen in enger Zusammenarbeit aller verantwortlichen Stellen sei die Parknutzung zur Freizeitgestaltung für Anwohner wiederhergestellt worden, davon ist Thieme überzeugt. Heute fällt die Klientel, die einst den Park bevölkerte, zumeist nur noch auf, wenn sie in Gruppen vor den zahlreichen Internetcafés steht. Allein damit sind sie allerdings kein Fall für die Polizei.
Der türkische Mittelstand ist eine feste Größe im Geschäftsleben
„Wir können ja Menschen, die irgendwo herumstehen, nicht vertreiben, bloß weil sie anderen Menschen nicht gefallen“, sagt Ziplies. Aber genau das scheinen viele Anwohner und auch Gewerbetreibende zu erwarten. Da ist etwa die Blumenhändlerin, die ihren Laden neben einem Internetcafé 15 Jahre lang allein betrieben hat. Inzwischen ist immer einer ihrer Söhne dabei, der achtet auf die Kasse, während sie sich um die Kundschaft kümmert. Nein, sie wurde bislang noch nicht bestohlen, „aber man weiß ja nie“. Kürzer äußert sich der türkische Imbissbetreiber nebenan: „Die vielen Ausländer vor meinem Laden stören meine Kunden. Und mich.“
Ein Ausländer, das passt zu Moabit. Der türkische Mittelstand ist eine feste Größe im Geschäftsleben. Bei ihnen gilt: Kriminalität schadet dem Geschäft und kriminelle Migranten schaden allen Zuwanderern. Bei Ladenbesitzer Erol hapert es zwar immer noch etwas mit der deutschen Sprache, aber mit seinen Ansichten könnte er, so er denn wählen dürfte, sein Kreuz auch bei der AfD machen. Die deutsche Polizei sei viel zu nachsichtig – er wünsche sich härtere Strafen.
Während Erol noch über seine Vorstellungen von Verbrechensbekämpfung sinniert, setzt in Moabit die Dämmerung ein. Die Menschen, die gerade noch auf ihrem Weg zwischen Turmstraße und Alt-Moabit die schnelle und bequeme Abkürzung durch den Park genutzt haben, sind schlagartig verschwunden. Und der Kleine Tiergarten wird wie an jedem Abend zur No-go-Area.
„Gäste werden auf der Straße angepöbelt“
Beim Kampf gegen Kriminalität fehlt ein roter Faden
An diesen Orten müssen Berliner und Touristen aufpassen
Kleiner Tiergarten: "Urin- und Kotgestank, überall Spritzen"
Bloß keinen zweiten Görlitzer Park