Rigaer Straße

Die Ruhe nach dem Kampf

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Uta Keseling
Alles ruhig an der Rigaer Straße 94 - zumindest im Moment

Alles ruhig an der Rigaer Straße 94 - zumindest im Moment

Foto: Reto Klar

Die Polizei ist abgezogen, die Fragen bleiben: Was wollen die Anwohner von der Rigaer Straße? Wie geht es weiter? Eine Bestandsaufnahme

Ebenso plötzlich, wie der jüngste Häuserkampf über Berlin hereinbrach, scheint er nun wieder verstummt. Drei Wochen lang brannten nachts stadtweit Dutzende Autos, dröhnten die Motoren der Polizei-Mannschaftswagen zwischen den Gründerzeithäusern der Rigaer Straße in Friedrichshain, herrschten Tag und Nacht Lärm, Party, Gewalt und Ausnahmezustand in dem Wohnviertel. Drei Wochen wurden Bewohner, Besucher und Nachbarn von der Polizei kontrolliert und immer wieder gefragt: Wo wollen Sie hin?

Die Kontrollen sind passé, die Frage bleibt. Wo will sie hin, die Rigaer Straße? Ist sie ein neues Symbol der Hausbesetzerszene in Berlin? Oder sind die Bewohner des umkämpften Hauses doch nur ganz normale Mieter mit Kindern, Menschen, die einfach nur anders leben wollen als andere? Geht von ihnen Gefahr aus, wie der jüngste Verfassungsschutzbericht nahelegt und die Einschätzung der Polizei, die das Viertel als „kriminalitätsbelasteten Ort“ einstuft? Ist es wirklich notwendig, Bauarbeiten mit Hunderten von Polizisten zu schützen? Dies war der Anlass der aktuellen Auseinandersetzungen.

Das alles ist nicht einfach zu verstehen, doch die Fragen führen weit über die aktuellen Probleme in dem Gebäude selbst hinaus. Seit am vergangenen Wochenende eine Unterstützer-Demonstration gewalttätig eskalierte, seit das Landgericht entschied, der jüngsten Polizeieinsatz in dem Haus sei nicht rechtens gewesen, seit stadtweit Autos brennen und Menschen bedroht werden, ist die „Rigaer 94“ in vielfacher Hinsicht zum Symbol geworden.

Den Unterstützern der linken Szene gilt sie nun als Symbol des erfolgreichen Widerstandes gegen Staat und Investoren, das Kürzel „R94“ prangt selbstbewusst an zerstörten Autos und Hauswänden. Andere sehen in dem wieder aufgeflammten Konflikt das generelle Scheitern der Politik im Umgang mit der linksextremen Szene und vermuten, auch der Wahlkampf könne indirekt zur Eskalation beigetragen haben. Erfolgreiche Polizeieinsätze verkaufen sich immer gut.

Es wird darüber geredet, ob man miteinander reden soll

Andererseits: In Berlin wird seit 50 Jahren um Häuser, Lebensformen, kollektiven Besitz gestritten. Um die Rigaer Straße 94 wird seit 26 Jahren gekämpft. Über viele Jahre schien der Konflikt um die ehemals besetzten Häuser ruhiger geworden zu sein, doch nun verschärft sich der Ton. Warum? Wer will eigentlich was? Und wer spricht für wen? Die Dinge sind komplizierter geworden. In den vergangenen Tagen wurde darüber diskutiert, ob man überhaupt miteinander reden soll, und wenn ja, worüber – auf allen Seiten, die sich wiederum selbst uneins waren.

Mit „denen“ wolle man nicht reden, so der Unterton – aber wer sind eigentlich „die“? Der Eigentümer des Gebäudes ist ein Phantom hinter Briefkastenfirmen und wechselnden Anwälten. Und auch die Bewohner sprechen mit gespaltener Zunge. Die einen forderten einen runden Tisch, im Internet verweigern sie – oder andere? – jegliche Zusammenarbeit. Auf einer englischsprachigen Internetseite verfassten die Bewohner anonym einen internationalen Solidaritätsaufruf für die „besetzte Rigaer Straße 94“, während die realen Bewohner im richtigen Leben ihren Status als Mieter betonen. Was wollen sie?

Für vergangene Hausbesetzer-Generationen war das einfacher zu beantworten. Im heruntergekommenen Kreuzberg 36 der 70er-Jahre ging es um Altbauten. Ohne die „Instandbesetzungen“ gäbe es heute dort nur noch anonyme Neubausiedlungen wie am Kottbusser Tor. In den 80ern machte eine bunte Szene um Musikergrößen wie David Bowie das schöne Leben in Berliner Ruinen weltweit bekannt. Manche Kulturzentren aus jener Zeit gehören bis heute ins Stadtbild, die Ufa-Fabrik in Tempelhof zum Beispiel: Sie wurde 1979 besetzt und ist heute Kulturort und Arbeitsplatz für 200 Menschen.

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1990, nach dem Mauerfall, gab es massenhaft Besetzungen im Ostteil der Stadt. Möglich wurde das durch die zahlreichen leerstehenden Gebäude, die zu DDR-Zeiten in staatlicher Hand waren. Auch viele Häuser der Rigaer Straße waren darunter. Die martialische Räumung der Mainzer Straße im selben Bezirk im November 1990 sollte ein Zeichen setzen: Schluss mit den Besetzungen. Die Bilder brennender Barrikaden, überrannter Polizisten, von Gewalt und Zerstörung gingen um die Welt – einen Monat nach der friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands.

Es sind Bilder wie diese, um die es an Orten wie der Mainzer Straße oder jetzt der Rigaer Straße geht. Zwar sind auch hier, wie in ganz Berlin, alle besetzen Häuser längst legalisiert. Doch bunte Fassaden und Revoluzzerplakate, Hassparolen und der aggressive Ton vieler Bewohner erzählen davon, in welcher Tradition diese sich sehen. „Gegen die Befriedung, für die Fortsetzung des Kampfes“, so äußern sich die Bewohner der Rigaer Straße 94 auf der Webseite rigaer94.squat.net.

Vor drei Jahren hatte der damalige Eigentümer angeboten, das Haus an eine gemeinnützige Stiftung zu verkaufen, die es sozialverträglich entwickelt hätte. Doch lehnten die Bewohner das ab. Sie wollten den Kampf. Wenn heute Vermummte mit brennenden „Bengalos“ auf den Dächern der Rigaer Straße stehen, sind dies nicht nur bunte Lichtspiele, sondern Zitate der Bilder aus der Mainzer Straße von einst. Dahinter steht die Drohung, dass aus den bunten Leuchtfeuern jederzeit echte Brände folgen können. So zumindest interpretiert sie die Polizei. Und genauso werden sie international gesehen.

Im Ausland gibt es Bilder aus einer exotischen Welt

Die neuerlichen Auseinandersetzungen bedienen ein Bild von Berlin, das die Stadt spannend macht – als Ort der Geschichte, an dem jederzeit alles möglich ist. Im Guten wie im Schlechten. Die New York Times vermeldete die jüngsten Eskalationen der Gewalt und der Polizei zwar in besorgtem Ton, merkte aber an: Allerdings sei Berlin heute eine dynamische, hoch profilierte europäische Großstadt, in der Investorengelder die Mieten steigen ließen und Hausbesetzer und Künstler vertrieben würden. Aus der Ferne klingt das vielleicht sogar wie eine glaubhafte Begründung, gespeist durch Reiseführer und Artikel, die Berlins Hausbesetzerszene darstellen wie eine exotische Welt.

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Wer die Rigaer Straße tatsächlich besucht, kann jenseits dieses Klischees auch ein anderes Bild bekommen. Sicher, auch hier wird gerade ein edler Neubaukomplex fertig, der Mietspiegel liegt hoch. Trotzdem leben die meisten Nachbarn augenscheinlich normal. Es gibt Kitas und Kioske, eine Volksküche, kleine Läden, Vereine. Aus manchen Hausbesetzern wurden Besitzer, sie kauften ihre Gebäude selbst oder wurden Mieter ihrer Objekte. Die meisten Nachbarn sagen: Sie leben hier gern, auch mit den bunten Ex-Hausbesetzern. Hinter vorgehaltener Hand beklagen viele auch die Gewalt gegen Autos und Menschen. Laut sagen wollen sie das nicht: Wer nicht aussieht und redet wie die Linken, wird bepöbelt und bedroht. Eine schwangere Frau wurde fast vom Fahrrad gestoßen, weil sie auf dem Bürgersteig fuhr. Es klingt, als seien die „Linken“ die neuen Spießer der Rigaer Straße.

Berlin hat nicht nur eine lange Geschichte der Protest-Gewalt. Vor allem steht die Stadt heute für das friedliche Erbe der Hausbesetzerszene, für bewahrte Gebäude, den freien Lebensstil, die kreative, internationale Atmosphäre. Auch an der Rigaer Straße leben viele, die dazu beitragen. Doch selbst sie rechnen nicht damit, dass nun endgültig Ruhe einkehrt.

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