Kriminalität

Senator Heilmann - „Wir müssen mehr für den Opferschutz tun“

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Andreas Abelund Gilbert Schomaker

Foto: Amin Akhtar (2) / Amin Akhtar

Zehntausende Menschen werden jährlich in Berlin Opfer einer Straftat, nur wenige werden entschädigt. Justizsenator Heilmann und Vertreter des Weißen Rings über fehlende Hilfe, Mobbing und Selbstmitleid

Im Jahr 2013 wurden in Berlin rund 78.000 Menschen Opfer einer Straftat. Aber nur sieben Prozent stellten einen Antrag auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz. Wird zu wenig für den Opferschutz getan?

Ein Gespräch mit Richard Oetker, Vorstandsmitglied beim Weißen Ring, Deutschlands größter Hilfsorganisation für Opfer von Kriminalität, deren Bundesvorsitzenden Roswitha Müller-Piepenkötter und dem Berliner Justizsenator Thomas Heilmann (CDU).

Berliner Morgenpost: Es wird in Deutschland viel Geld für die Resozialisierung von Straftätern ausgegeben. Wird denn genug für die Betreuung und Unterstützung von Opfern getan?

Richard Oetker: Was ist genug? Es ist richtig, dass sich die Öffentlichkeit sehr auf die Täter konzentriert und zu wenig auf die Opfer. Deswegen wurde 1976 der Weiße Ring gegründet, um sich dieser Problematik anzunehmen. Der Weiße Ring versucht, den Blick der Politik und der Öffentlichkeit darauf zu lenken, dass dem Opferschutz mehr Aufmerksamkeit geschenkt und mehr Geld dafür bereitgestellt wird. Es wird wahrscheinlich nie genug sein, solange die Zahl der Kriminalitätsfälle steigt und viele Opfergruppen nicht berücksichtigt sind.

Welche Gruppen werden denn nicht berücksichtigt?

Richard Oetker: Zum Beispiel der große Kreis der Sekundäropfer, also Familienangehörige und Freunde. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass diese Menschen oft noch viel länger leiden als die Primäropfer. Warum leiden sie? Weil das Opfer ihnen nahesteht und sie aus psychischen Gründen nicht in der Lage sind, offen mit ihm zu sprechen. Ich habe das selbst an meinem eigenen Schicksal lernen müssen, bis heute. Oder nehmen Sie die Opfer psychischer Gewalt. Für die gilt das Opferentschädigungsgesetz nämlich nicht. Wir müssen auf die Politik einwirken, das Gesetz zu erweitern. Das betrifft etwa Menschen, die durch einen Wohnungseinbruch psychisch geschädigt sind. Viele Leute haben gar keine Vorstellung, was ein Einbruch bedeutet. Das sind enorme psychische Belastungen. Die Betroffenen können teilweise über Monate und Jahre nicht in ihre geliebte gewohnte Umgebung zurückkehren.

Thomas Heilmann: Die Opfer empfinden Ohnmacht, fühlen sich ausgeliefert. Wir müssen mehr für den Opferschutz tun, da sind wir uns völlig einig. Aber bitte bedenken Sie: Resozialisierung von Straftätern ist auch Opferschutz, denn eine gelungene Resozialisierung verhindert weitere Opfer. Ich gebe aber Herrn Oetker recht, dass die Perspektive der Opfer oft zu wenig beachtet wird. Wenn Opfer dann lesen oder hören müssen, dass es der Täter ja auch nicht leicht hatte, ist das einfach nicht gut. Deshalb: Resozialisierung ja, aber bitte keine Entschuldigung von Straftaten.

Muss auch mehr getan werden, damit Kinder und Jugendliche nicht durch Mobbing in eine Opferrolle geraten?

Richard Oetker: Der Weiße Ring nimmt sich auch dieses Themas an. Die Zahl der Mobbingopfer nimmt zu, vor allem durch Mobbing im Internet.

Roswitha Müller-Piepenkötter: Und es hat eine völlig neue Qualität bekommen, weil man sich ihm nicht entziehen kann. Auch vor 30 Jahren wurden Kinder in der Schule gemobbt. Aber wenn sie dann nachmittags in den Sportverein gegangen sind oder in die Musikschule, kamen sie in einen anderen Kreis, in dem das Mobbing keine Rolle spielte. Heute wird es überall verbreitet. Wir meinen, dass man da auch auf der Gesetzesebene etwas tun muss.

Thomas Heilmann: Natürlich. Um die Opfer von Cybermobbing muss sich der Gesetzgeber kümmern, genauso wie um Opfer anderer Delikte im Bereich der Internetkriminalität. Ebenso wichtig ist aber, dass die Opfer ihre Rechte kennen und nutzen. Neun von zehn Betroffenen nutzen die Angebote nicht, die wir ihnen schon heute an die Hand geben. Opfer wird man unvorbereitet. Aber wenn es jemanden trifft, sollten Betroffene wissen, was Staat und Organisationen wie der Weiße Ring tun, um zu helfen. Auch deshalb haben wir im Land Berlin einen Opferbeauftragten, der diese Informationen im Übrigen auch in mehreren Sprachen bereithält.

Auch der Opferbeauftragte Roland Weber beklagte, dass die Angebote zu wenig in Anspruch genommen werden. Muss man das grundsätzlich verändern? Etwa dass es schon Hinweise auf Hilfsangebote gibt, wenn ein Opfer zur Polizei geht?

Roswitha Müller-Piepenkötter: Das ist eigentlich schon heute nach dem Gesetz vorgeschrieben. Aber leider haben wir sowohl beim Opferentschädigungsgesetz als auch bei den Hinweispflichten Vollzugsdefizite.

Thomas Heilmann: Oft fehlt es nicht an gutem Willen, sondern an Wissen. Deshalb ist der Opferbeauftragte sehr häufig bei der Polizei, bei Richtern oder dem Anwaltsverein, um dort Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit zu leisten. Wir verbessern in Berlin dadurch den Opferschutz, dass mehr Menschen sich auskennen und überzeugt sind. Auch über das Berliner Antragsverfahren im Opferentschädigungsgesetz müssen wir reden, es ist zu kompliziert.

Haben Sie weitere Forderungen?

Roswitha Müller-Piepenkötter: Es muss Änderungen in der Ausbildung von Richtern und Staatsanwälten geben. Bei der Polizei ist das Opfer stärker im Blick als in der Justiz. Das ist für Opfer eine traumatische Belastung, etwa wenn sie als Zeuge in einem Prozess aussagen. In der Ausbildung sollte darauf hingewirkt werden, Opfer nicht einfach wie ein Beweismittel zu betrachten, sondern zu berücksichtigen, was diese Menschen erlebt und erlitten haben. Es geht aber nicht nur um Gesetze, es geht vor allem um ein entsprechendes Bewusstsein in der Öffentlichkeit.

Thomas Heilmann: Im Ziel sind wir uns einig: Mehr Bewusstsein und Wissen bei den beteiligten Menschen und Institutionen. Da hat der Opferbeauftragte bereits viel erreicht. Noch besser funktioniert übrigens Fortbildung – etwa gezielt für Richter und Staatsanwälte. Denn viele Jurastudenten haben später in ihrem Beruf mit dem Thema Opferschutz ja nichts mehr zu tun.

Welchen Rat geben Sie Opfern und Ihren Angehörigen? Was ist das Wichtigste?

Richard Oetker: Bloß nicht in Selbstmitleid verfallen, bloß nicht diese Opferrolle annehmen. Wenn wir uns zurückziehen und immer wieder unser Schicksal bejammern, isolieren wir uns. Opfer werden ohnehin meist schon dadurch isoliert, dass wir Menschen es nicht gelernt haben, mit ihnen offen und normal umzugehen. Diese Erfahrung habe ich auch gemacht. Um aus der Isolation herauszukommen, sollten Opfer signalisieren, dass sie ganz offen über das Thema reden möchten. Je öfter und intensiver Opfer über das sprechen können, was sie erlebt haben, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, das zu verarbeiten.

Roswitha Müller-Piepenkötter: Und wenn man niemanden in der Familie oder im Freundeskreis hat, sollte man zum Weißen Ring kommen. Das Reden ist unsere Haupttätigkeit. Nur knapp 50 Prozent derjenigen, die zu uns kommen, brauchen materielle Unterstützung. Das Gespräch, dass jemand da ist, der zuhört und das annimmt, was man erzählt, das ist wichtig. Auch dass Menschen einen bei Behördengängen begleiten, damit man sich dort nicht erneut hilflos ausgeliefert fühlt.

Thomas Heilmann: Wichtig ist, dass Opfer wissen, dass ihnen Hilfe zusteht und dass sie sich auf keinen Fall schämen dürfen, diese Hilfe auch in Anspruch zu nehmen. Der Staat muss Opfer schützen: Indem er ihnen zum Beispiel einen Anwalt an die Seite stellt, den er auch bezahlt. Oder indem er Einrichtungen wie die Gewaltschutzambulanz in Berlin unterstützt: Hier bekommen Opfer von Gewalt in der Familie umfassende medizinische, psychologische und juristische Unterstützung aus einer Hand.

Es ist geplant, auch wegen einer entsprechenden EU-Richtlinie, Opfern künftig nicht nur einen Rechtsanwalt zu stellen, sondern auch eine psychosoziale Betreuung. Wann wird das in Kraft treten?

Thomas Heilmann: Die psychosoziale Betreuung soll ab 1. Januar 2017 kommen.

Herr Oetker, Sie selbst wurden im Jahr 1976 Opfer eines abscheulichen Verbrechens. Wie haben Sie es geschafft, das zu verarbeiten?

Richard Oetker: Ich war schwer verletzt, lag lange im Krankenhaus. Aber dort hatte ich täglich Besuch von der Polizei, wurde drei Monate lang intensiv vernommen. Ich hatte mich während meiner Entführung damit abgelenkt, möglichst viel von meiner Umgebung wahrzunehmen. Während der Vernehmungen konnte ich mir alles von der Seele reden und wurde gleichzeitig geschult, mich mit dem Erlebten sachlich auseinanderzusetzen. So können Sie das verarbeiten. Außerdem haben Menschen viel mehr Kraft, als wir selbst glauben. Wenn man mir vorher gesagt hätte, was ich alles durchstehen muss, hätte ich gesagt, das schaffe ich nicht.

Aber die Folgen dieser Verletzungen müssen Sie heute noch tragen. Wollten Sie sich nicht an Ihrem Entführer rächen?

Richard Oetker: Nein. Ich habe das Glück, noch nie einen Menschen gehasst zu haben, und ich kenne das Gefühl der Rache nicht. Warum das so ist, kann ich Ihnen nicht sagen, wahrscheinlich ist es Veranlagung. Aber ich freue mich, dass es so ist, denn diese Gefühle binden unnötig Energie.