Berlin wächst, Berlin feiert, alle Welt will nach Berlin. Doch es gibt auch die andere Seite: Inzwischen droht jedem fünften Berliner Armut. Was bedeutet das für die Menschen?

Die ersten Kunden stehen schon ungeduldig vor der Tür, als am Donnerstagmorgen der „Trödelpoint“ öffnet. Zielstrebig laufen die zwei Männer durch die Möbelhalle an der Storkower Straße, vorbei an endlosen Schrankwänden und gestapelten Waschmaschinen, die sämtlich beschriftet sind: „verkauft“. Ihr Ziel ist eine blaue Schlafcouch, an der noch kein Zettel hängt.

Die Geschäfte gehen gut in dem Sozialwarenhaus in Prenzlauer Berg. Zwar darf im „Trödelpoint“ nur einkaufen, wer seine Bedürftigkeit nachweisen kann. Das hat das Jobcenter verlangt, das auch einige der Mitarbeiter finanziert. Anfangs erschien ihnen das als Hürde. Aber offenbar gibt es genug nachweislich arme Menschen in Berlin, die sich neue Möbel nicht leisten können. „Waschmaschinen und Schlafsofas sind der Renner bei uns“, sagt Renate Ziegenhagen, die Projektleiterin des „Trödelpoints“. Ihre Kunden kommen mittlerweile bis aus Zehlendorf, „und das, obwohl wir keine Werbung machen“.

Betreiber des Gebrauchtwarenladens ist der gemeinnützige Verein Mob e.V., der auch die Zeitschrift „Straßenfeger“ herausgibt, eine Notunterkunft und weitere soziale Projekte betreibt. Bis vor einem Jahr hatte der Verein seine Räume an der Prenzlauer Allee. Als der Vermieter kündigte, gab es Schlagzeilen. Der Fall schien typisch für die Verdrängung der Armen aus den angesagten Vierteln der Stadt.

Immer mehr sind trotz Arbeit arm

Arm, aber sexy: 2003 prägte Berlins damaliger Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit das Wort, das den Zustand der Stadt zum Statussymbol erhob. Mittlerweile scheint es vielen überholt. Berlin boomt, die Stadt ist anziehend wie nie für Touristen, Gründer, junge Menschen. Und sie schreibt seit einigen Jahren sogar schwarze Zahlen.

Doch andererseits droht mittlerweile jedem fünften Berliner die Armut. Diese Zahl nannte im Januar das Statistische Bundesamt. Trotz wirtschaftlichem Aufschwung steigt die sogenannte „Armutsgefährdungsquote“. Deutschlandweit liegt sie beim Rekordwert von 16,1 Prozent – in Berlin schnellte sie sogar von 15,1 auf 21,4 Prozent hoch. Parallel sinkt seit 2011 die Zahl der Berliner, die Arbeitslosengeld bekommen. Mit anderen Worten: Immer mehr Menschen sind trotz Arbeit arm.

Gleich mehrere Seiten schlagen jetzt Alarm. Der Paritätische Wohlfahrtsverband warnt, in keinem Bundesland lebten so viele Kinder von Hartz IV wie in Berlin, wo inzwischen jedes dritte Kind in Berlin unter 15 Jahren von der „Stütze“ lebt. Was bedeutet dies für die Kinder? Der Familienbeirat des Senats ließ dies gerade in einer Studie zur Situation armer Familien in Berlin erforschen. Fazit: Es müsse viel mehr Zusammenarbeit der Verantwortlichen geben, um die Entwicklung zu stoppen.

Armut macht krank

In den vergangenen Tagen machten in Berlin außerdem rund 2200 Ärzte und Sozialexperten auf ein weiteres Problem aufmerksam: Armut macht krank. Zwar weiß man dies seit Langem, den Kongress zu „Armut und Gesundheit“ gibt es schon seit 20 Jahren. Doch das Problem ist noch immer akut, stellte eine Studie des Robert-Koch-Instituts gerade fest. Kinder aus sozial schwachen Familien wachsen auch heute noch mit größeren gesundheitlichen Risiken auf als solche aus wohlhabenden Haushalten, so die Experten.

Was also bedeutet es konkret, „arm“ zu sein? Die beiden Frühkunden im Trödelpoint haben das blaue Sofa mittlerweile vermessen und sind zufrieden. Am Verkaufstresen legen sie ihre Papiere vor. Der eine bezeichnet sich als „Betreuten“, er hat eine Behinderung. Sein Begleiter stellt sich als „Einsfuffziger“ vor. „Em-A-Eh“, fügt er erklärend hinzu. Was so viel heißt wie „Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung“. Auszusprechen braucht er das Wortungetüm nicht. Viele Mitarbeiter hier sind selbst „MAE“.

Überleben als Einsfuffziger

Der Einsfuffziger hilft „beruflich“ für 1,50 Euro die Stunde in einem Flüchtlingsheim aus. „Kleider, Möbel, Hausrat, im Prinzip dasselbe wie hier, nur geschenkt.“ Es klingt kein Vorwurf mit. „Ich muss zwar auch jeden Pfennig umdrehen, aber verglichen mit den Flüchtlingen geht’s mir gut.“ Dann sagt er noch: „Die Armut ist heute ein eigener Markt, einer lebt vom nächsten.“ Er klappt den Zollstock zusammen und lässt das Sofa reservieren. Es kostet 120 Euro.

Die Armutsgrenze verläuft in Deutschland statistisch gesehen bei 979 Euro monatlich für Alleinstehende. Wer mit weniger leben muss, gilt als arm. Oft wird auch mit der Pfändungsgrenze gerechnet: 1049,99 Euro darf ein Erwachsener in Deutschland von seinen Einkünften für sich behalten, auch wenn er verschuldet ist. Der Einsfuffziger sagt: „Nebenan können Sie sehen, was echte Armut ist.“

Nebenan betreibt der Mob e.V. das „Café Bankrott“. In dem hellen Raum stehen Tische und Stühle in Gruppen. Am Tresen gibt es neben preiswerten Mahlzeiten und gespendeten Kleidern auch einen Waschservice für Kleider zu 1,50 Euro die Maschine. Ein grauhaariger Gast reicht einer Helferin eine Tüte. Sie fragt: „Helles oder Dunkles?“ Fast hört es sich an, als gäbe hier ein Geschäftsmann seine Hemden in der Reinigung ab, um danach ins Büro zu eilen.

Als Sozialtourist beschimpft

So ähnlich mag es im ersten Leben des Mannes tatsächlich gewesen sein. Aus seiner Zeit als Geschäftsmann hat er nichts retten können außer Erinnerungen an verlorene Millionen, verlorenes Vertrauen, verlorene Freunde. 18 Jahre ist es her, dass er vor seinem alten Leben nach Berlin floh und in Pensionen lebte, bis das Geld weg war. Eine Weile versuchte er, in dem Ort wieder Fuß zu fassen, in dem er zuletzt gearbeitet hatte. „Sozialtourist“ haben sie ihn dort genannt. Zurück in Berlin riet man ihm wiederum auf dem Amt, er solle zurückgehen, wo er herkäme. Der Geschäftsmann sagt: „Wer arm ist, wird in eine Schublade gesteckt, da kommst du nie wieder raus.“

Einen Tisch weiter sitzt „Cowboy-Klaus“, er ist sozusagen der Gegenentwurf des Geschäftsmannes. So wie der eine fortwährend klagt, ist der andere für alles dankbar. Cowboy-Klaus trägt seinen Namen stolz wie seine zwei Cowboyhüte, „weil zwei besser sind als einer“. Er freut sich über den Kaffee, über die Gesellschaft, darüber, dass er noch lebt. Er ist geborener Berliner, 77 Jahre alt, hat 128 Euro Rente. „Ich habe mal Bauer gelernt, als Rettungshelfer gearbeitet. Und ich war mal Blitzmeister im Schach 1962 in Berlin. Das ist doch was!“ Arm? „Das einzige, was mir manchmal fehlt, ist Gesellschaft. Deswegen bin ich hier.“

Alte Menschen sind von der steigenden Armut zunehmend betroffen, auch das geht aus den Zahlen des Statistischen Bundesamtes hervor. Der aktuelle Stand ist der der höchste seit 2005 und die Kurve geht weiter steil nach oben. Steiler als bei den anderen Altersgruppen. Besonders betroffen sind die westlichen Bundesländer. In Berlin liegt die Altersarmut bei „nur“ elf Prozent, noch. Das wird sich ändern, wenn bald immer mehr Menschen in Rente gehen, die nach der Wende nicht mehr oder nur geringfügig beschäftigt waren. Zum Beispiel als ABM, AGH, MAE oder wie die Maßnahmen auch immer heißen, die zwar kurzfristig die Arbeitslosenquote verbessern, aber nicht dauerhaft das Leben der Menschen

Wo verläuft die Armutsgrenze in der Stadt?

Als armutsgefährdet gilt, wer einschließlich staatlicher Hilfen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Insgesamt müssen in Berlin rund 730.000 Menschen mit dem Existenzminimum oder weniger auskommen. Wo diese Armutsgrenze räumlich verläuft, ist schwerer zu erkennen.

Zum Beispiel am Marheinekeplatz in Kreuzberg: Der Bergmannkiez ist historischer Mittelpunkt der Alternativszene in Kreuzberg – aber heute auch bekannt für teure Restaurants und Wohnungen. Kreuzberg ist bei Neuvermietungen mittlerweile die teuerste Wohngegend der Stadt, stellte die Berliner Investitionsbank gerade in ihrem Wohnungsmarktbericht fest.

Den Marheinekeplatz bevölkerte lange eine Mischung aus Kneipengästen und Kindern, aus Spinnern, Musikern und Alkoholikern. Sie sind weniger geworden, seit der Platz saniert wird. Heute kreuzen hier junge Menschen auf teuren Fahrrädern zwischen Biosupermärkten und Weinläden. In den Cafés sitzt man mit Laptop.

Die Scham ist groß

Nur donnerstags verändert sich die Szene fast unmerklich. Dann sieht man Menschen mit Einkaufstrolleys über den Platz ziehen. Nicht zur Markthalle, sondern zur Passionskirche gegenüber. „Laib und Seele“ heißt die wöchentliche Veranstaltung in dem neuromanischen Klinkerbau, die parallel in fast 50 Berliner Kirchen stattfindet. Nach einleitenden Worten des Pfarrers werden gespendete Lebensmittel der Berliner Tafel ausgegeben. Die Gäste zahlen einen symbolischen Euro für Lebensmittel, auch hier müssen sie ihre Bedürftigkeit nachweisen.

In der Schlange stehen an diesem Tag alte Menschen mit Rollatoren und junge Leute in Funktionsjacken. Es sind Menschen mit Brillen und Büchern, gekleidet in der Mode der Mittelschicht. Wer hierher kommt, hat zwar ein Zuhause und ein normales Leben, aber nicht mehr das Geld, um Essen zu kaufen. Die Helfer von „Laib und Seele“ bitten darum, keine Pressefotos zu machen. Die Scham, sagen sie, sei bei vielen Gästen groß.

Von draußen wirft die Sonne dicke Strahlen durch die bunten Fenster. Im Innern mischen sich der Duft von Holz und Kerzen mit der irritierenden Note von Lebensmitteln. Besonders voll ist es bei „Laib und Seele“ am Ende des Monats sagen die Helfer, wobei Kreuzberg nicht zu den überlaufenen Stationen gehört, wohl auch wegen der Verdrängung durch steigende Mieten. Die Gäste sammeln sich in den Kirchenbänken. Man kennt sich. „Wo warst du letzte Woche?“, begrüßen sich zwei ältere Damen, weiter hinten wird polnisch gesprochen. Auch zwei Frauen mit Kopftuch sitzen da.

Aushalten, dass einem gegeben wird

Als oben im Turm die Glocken läuten, ordnen sich unten im Kirchenschiff alle zu einer Warteschlange an den Tischen. Brot, Gemüse, Obst, Milch und Eier sind in Kisten sortiert. Die Ausgabe ist ein Ritual. Aus den Buggys werden knistend gebrauchte Plastiktüten gezogen. Die ehrenamtlichen Helfer füllen geduldig eine um die andere. Nur als eine junge Frau selbst nach den bunt gefärbten Ostereinern greift, weist sie ein älterer Helfer zurecht: „Ich gebe das!“ Geben ist seliger denn nehmen: Wer arm ist, muss das aushalten lernen.

An dem Tag stellen sie in Kreuzberg einen traurigen Rekord auf. Es sind fast doppelt so viele Menschen bei „Laib und Seele” gewesen wie an anderen Tagen. 151 Erwachsene, dazu 34 Kinder, alle aus der direkten Umgebung. Die meisten leben von Hartz IV, Rentnern oder Grundsicherung. Doch auch Studenten und einige Asylbewerber waren da. Viele kamen zum ersten Mal.

Nicht nur die Mieten in Kreuzberg steigen, sondern auch das Armutsrisiko. Das liegt, so die Studie des Familienbeirats des Senats, fast nirgendwo in Berlin so hoch wie in Friedrichshain-Kreuzberg. Nur in Neukölln ist es noch höher. Dort ist fast jeder Vierte armutsgefährdet.

Jedes zweite Kind spürt, was Armut ist

Für eine wachsende Zahl Berliner Kinder gehört die „Stütze“ zum Leben – die aktuellen Zahlen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes sind alarmierend. In keinem anderen Bundesland leben so viele Kinder von Hartz IV wie in Berlin, jedes dritte Kind unter 15 Jahren. Die Initiatoren der Arche, einer Tagesstätte für benachteiligte Kinder, gehen sogar davon aus, dass fast jedes zweite Kind in Berlin „bewusst Armut wahrnimmt“, wie Arche-Sprecher Wolfgang Büscher sagt. Auch die Arche gibt es schon seit 20 Jahren. Das erste Haus eröffnete Pastor Bernd Siggelkow 1995 in Hellersdorf. Mittlerweile gibt es fünf Standorte an sozialen Brennpunkten in Berlin, 19 in ganz Deutschland. Finanziert werden sie zum größten Teil aus Spenden.

In der Arche in Friedrichshain werden rund 60 Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren kostenlos betreut. Es gibt Hausaufgabenhilfe, Musikunterricht und Zeiten für den Computer. Ab und zu werden Ausflüge organisiert. Zweimal im Monat sind die Eltern zu einem Elterncafé eingeladen – doch die wenigsten kommen. Kinderarmut in Deutschland bedeute nicht allein materielle Not, sagt Büscher, sondern auch „emotionale Verwahrlosung“ durch Eltern, die sich schlicht nicht um ihren Nachwuchs kümmern.

Von Nadine, 34, und David Müller, 37, lässt sich das nicht sagen. Das Paar lebt in Friedrichshain und kommt regelmäßig mit seinen Kindern in die Arche. Die beiden Töchter Denise und Julia sind zwölf und sechs. Sie mögen die Einrichtung, die in einer Plattenbauwohnung nahe der Landsberger Allee ihre Räume hat. Nicht nur, weil es hier Menschen gibt, die bei den Hausaufgaben helfen. Julia liebt Tischfußball. „Ich bin aber richtig gut im Kickern“, sagt sie stolz.

150 Euro für einen Monat Essen

Für die Eltern ist es wichtig, dass ihre Töchter die Welt entdecken, die sie ihnen selbst nicht zeigen können. Nadine Müller hat das Bildungspaket für ihre Töchter beantragt und den Berlinpass. So gibt es ermäßigte Eintrittskarten. Sie versucht, alle Fördermöglichkeiten in Anspruch zu nehmen.

Die Familie lebt von Hartz IV. David Müller ist Trockenbauer, aber seit zwei Jahren krankgeschrieben. „COPD und Herzinsuffizienz“, sagt er knapp. Nadine Müller ist Altenpflegehelferin. „Würde ich arbeiten, bekäme ich gerade mal 800 Euro“, sagt sie. Zwar würde sie gern eine richtige Ausbildung zur Altenpflegerin machen, aber momentan ist daran nicht zu denken. Ihr Leben findet zwischen Ämtern, Ärzten und Haushalt statt, seit die Mediziner ihrem Mann die Hoffnung genommen haben, je wieder in seinem Beruf arbeiten zu können. Genauer gesagt machen sie ihm überhaupt wenig Hoffnung auf ein langes Leben. Seine Krankenkasse verlangt, er solle in Rente gehen.

Trotz allem, sagt David Müller, gehe es seiner Familie gut. Sie überleben mit Hartz IV, Wohn- und Kindergeld. Wenn es gut läuft, kommen sie mit 150 Euro Kosten im Monat für Lebensmittel aus, sagt Nadine Müller. Gespart wird an teuren Fertigprodukten, stattdessen kochen die Eltern selbst. „Aber mal eben was Süßes beim Bäcker für die Kinder zu holen, ist nicht drin.“

Vier Quadratmeter Kinderzimmer

Statt in den Urlaub fahren sie zu den Großeltern, die auch den Weihnachtsmann ersetzen, was die Geschenke betrifft. Vor Weihnachten besuchte die Familie sogar eine Aufführung der Pferdeshow „Appassionata“. Dank der Arche, die solche Ausflüge für Familien ab und zu möglich macht.

Und noch etwas bietet die Arche den Müller-Kindern: Platz zum Toben. Zwar bekäme die Familie Zuschüsse für eine Wohnung von mehr als 100 Quadratmetern, wenn sie denn eine fände. „Aber wenn wir sagen, wir leben von Hartz IV und mein Mann ist schwer krank, winken alle Vermieter ab“, sagt Nadine Müller. So leben sie weiter zu fünft auf 60 Quadratmetern, in die das Paar einzog, bevor die Kinder kamen.

54 Prozent der Berliner Haushalte sind berechtigt, eine Sozialwohnung zu beziehen. Doch es wird immer schwerer, günstigen Wohnraum zu finden. In den Trabantenstädten wie Marzahn oder Hellersdorf wurden noch bis bis 2010 Plattenbauten abgerissen. Seitdem ist der Leerstand auch hier von fünf auf zweieinhalb Prozent gesunken, sagt Lutz Ackermann, Sprecher der Wohnungsbaugesellschaft Degewo, der die berlinweit rund 75.000 Wohnungen vermietet.

Die Müllers haben inzwischen das Kinderzimmer mit einer Wand in zwei Räume geteilt. „Vier und sieben Quadratmeter“, er lacht, „ich glaub’, selbst eine Knastzelle wär’ größer“. Das elterliche Bett ist zum Hochbett geworden, unter dem Kleinkind Paul spielt. David Müller hat die ganze Wohnung auf diese Weise gefühlt „vergrößert“. Mit perfekt selbstgebauten Möbeln, die aussehen wie ein Schöner-Wohnen-Projekt. Nur dass eben alles sehr langsam voran geht. „Weiterbauen kann ich nur, wenn es mir gut genug geht und wieder Geld für Material da ist.“

Menschen ohne Dach über dem Kopf

Sichtbarstes Zeichen von Armut in einer Stadt sind Obdachlose. Wie viele Menschen auf Berlins Straßen leben, weiß man nicht. Sie werden nicht gezählt. Zwar gibt es in der Statistik den Begriff „wohnungslos“, doch der meint Menschen, die in Heimen, Notunterkünften oder anderen Einrichtungen „untergebracht“ sind. Die also nicht mehr wohnen, aber auch nicht obdachlos sind. Das waren in Berlin 2012 rund 11.000.

Zwischen 1000 und 4000 Menschen leben in Berlin in Grünflächen, unter Brücken, auf Bürgersteigen, in Hauseingängen, auf Bahnhöfen schätzen Experten. Dem Anschein nach werden es mehr, sagen Helfer der Einrichtungen für Obdachlose. In der Notübernachtung der Berliner Stadtmission an der Lehrter Straße etwa werden im Winter 100 Schlafplätze für Menschen angeboten, die nirgendwo sonst unterkommen.

Die Schlafstellen sind einfache Matten auf dem Boden. Acht oder mehr Menschen teilen sich einen Raum. An der Lehrter Straße wird jeder Gast eingelassen, egal wie alkoholisiert, verwahrlost oder verwirrt er ist. Das macht das Haus zu etwas Besonderem. Andererseits ist es selbst unter Obdachlosen berüchtigt für Lärm, Ärger und viel zu oft auch Läusen. Neu ist, dass regelmäßig doppelt so viele Gäste wie vorgesehen auftauchen. In anderen Jahren war das nur bei strengem Frost der Fall.

Obdachlose werden oft nicht behandelt

Am Donnerstagabend liegt über den Zimmern der Duft von frisch gewaschener Bettwäsche und Putzmittel. Im Aufenthaltsraum riecht es heimelig nach Kaffee und Eintopf. Es gibt Duschen, Kleiderspenden und eine medizinische Notversorgung. 17 Helfer werden sich in der Nacht um die Gäste kümmern, alles Ehrenamtliche, die großenteils ihren Feierabend opfern. Es sind harte Nächte, für alle.

Die Tür wird erst um 21 Uhr geöffnet, doch schon 20 Uhr drängeln sich rund 50 Männer und einige Frauen an der Tür. Ein Mann hat sich in der Menge erbrochen, zwischen den Beinen eines anderen läuft Urin die Treppe nach unten. Die anderen meckern. Als Helfer schließlich mit Wassereimern anrücken, kommt ein junger, kahlköpfiger Mann rufend herbei, der einen zitternden älteren Mann stützt. „Mein Freund, Hilfe“, ruft der junge mit russischem Akzent. Als der Krankenwagen eintrifft, müssen schließlich drei kollabierte Männer behandelt werden.

Eine Stunde dauert es, bis der Notarzt die Kranken so versorgt hat, dass sie die Nacht überstehen. Mitgenommen werden sie nicht. Die ehrenamtlichen Helfer sind trotzdem dankbar dafür. „Obdachlose werden oft einfach liegengelassen“, sagt Anna-Sofie Gerth. Die 26-Jährige leitet einmal die Woche das Haus an der Lehrter Straße. Im richtigen Leben ist sie Social-Media-Redakteurin der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg. „Ich mache das gern, die Nächte hier erden mich“, sagt sie schlicht.

Immer mehr Flüchtlinge

Immer öfter, sagt die Helferin, beherbergen sie jetzt auch Flüchtlinge in der Lehrter Straße, die in den regulären Aufnahmestellen nicht mehr untergekommen sind. Immer öfter sind Familien dabei, die in einem eigenen Schlafraum getrennt von den anderen Gästen untergebracht werden. Doch nicht immer gelingt diese Trennung. Zwischen den Obdachlosen waren schon Studenten, ein syrischer Zahnarzt, „einmal kam eine Gruppe 15-jähriger syrischer Jungen mit dem Taxi“. Die Bundespolizei hatte die Kinder vom Flughafen Tegel hergeschickt. Die Lehrter Straße ist kein Ort für Menschen, die direkt aus Kriegen und Krisen kommen, das wissen eigentlich alle. Doch auch am späten Donnerstagabend kommen wieder syrische Flüchtlinge an. Und es wird wieder passieren.

In Berlin sind im vergangenen Jahr 12.000 Flüchtlinge angekommen, mit 20.000 rechnet die Sozialverwaltung in diesem Jahr. Turnhallen und Containerdörfer sind voll, die nächsten Flüchtlingswohnheime müssen erst vorbereitet werden. Und die Notquartiere der Kältehilfe werden Ende März schließen. Die Helfer sagen: Mittlerweile gebe es um die Unterkünfte eine Art Konkurrenz unter Obdachlosen und Flüchtlingen.

„Armut lässt sich nicht mit Pillen kurieren“

Obdachlosigkeit ist nicht nur das sichtbarste Zeichen von Armut, Notaufnahmestellen wie diese sind auch Seismographen für Veränderungen in der Gesellschaft. Die Ärztin Jenny De la Torre sagt: An ihren Patienten erkenne sie heute, dass sich die Situation armer Menschen in Berlin einerseits verbessert habe. „Vor 20 Jahren kamen manche in einem so fürchterlichen gesundheitlichen Zustand zu uns, dass ich nachts davon geträumt habe.“ Andererseits hat sie mehr Patienten, nicht weniger, obwohl es heute vier Ambulanzen für Nichtversicherte in Berlin gibt. „2010 haben wir bei uns rund 250 neue Patienten behandelt, 2014 kamen mehr als 900 erstmals zu uns.“

Jenny De la Torre beschloss als Kind in Peru, Ärztin zu werden, als sie sah, dass im Krankenhaus mittellose Patienten nicht behandelt wurden. 1994 eröffnete sie in Berlin ihre erste provisorische Ambulanz für Nichtversicherte am Ostbahnhof. Seit 2002 leitet sie ihre eigene Stiftung, mehrere Fachärzte, ein Koch, eine Frisörin und weitere Helfer kümmern um Menschen, die anderswo nicht behandelt würden. Armut und Obdachlosigkeit, sagt De la Torre, seien komplexe gesellschaftliche Probleme, die man von vielen Seiten angehen müsse. „Sie lassen sich nicht mit zwei Pillen kurieren“.