Der Mord an Hatun Sürücü hatte eine Debatte über Integration und Parallelgesellschaften ausgelöst. Es wurden Projekte gegründet, die sich den Ursachen widmen und Präventionsarbeit machen sollten. Eines ist das Projekt „Heroes“ (Helden). Der Psychologe Ahmad Mansour ist dort Gruppenleiter. Außerdem berät der in Israel geborene Araber das Berliner Landeskriminalamt in Fällen, in denen es um Gewalt im Namen der Ehre geht. Mit der Berliner Morgenpost sprach er über die Ursachen für sogenannte „Ehrenmorde“, seine Arbeit bei „Heroes“ und die Frage, was Gewalt und Unterdrückung von Frauen mit dem Islam zu tun haben.
Berliner Morgenpost: Wie haben Sie den Tod von Hatun Sürücü wahrgenommen?
Ahmad Mansour: Es war ein Schock. Ich war damals erst etwa ein Jahr in Deutschland und hatte schon gesehen, dass es in manchen Familien patriarchale Strukturen gibt, die solche Taten begünstigen. Ich kannte das aus Palästina und wollte es hinter mir lassen. In Berlin habe ich es aber manchmal sogar in einer noch radikaleren Form wieder erlebt. Diese Erlebnisse und auch der Mord an Hatun Sürücü haben mich motiviert, in diesem Bereich zu arbeiten.
Was hat sich in den zehn Jahren nach dem Sürücü-Mord verändert?
Es gibt jetzt ein anderes Bewusstsein. Im Landeskriminalamt der Polizei gibt es nun eine Abteilung, die sich auf solche Themen spezialisiert hat. Da wird Frauen geholfen, man unterstützt sie, und die Beamten erstellen Gefährdungsanalysen. Viele wissen jetzt genau, was ein „Ehrenmord“ ist und sie versuchen, betroffenen Frauen zu helfen. Es sind viele Projekte entstanden, Frauenhäuser wurden gegründet. Es gibt jetzt auch viele muslimische Akteure, die sich distanziert und eindeutig Stellung bezogen haben.
Das klingt gut.
Ja, das ist es auch. Auf der anderen Seite beobachte ich eine neue politische Korrektheit, die dazu führt, dass man nicht mehr über das Thema und die Gründe dahinter spricht. Es gibt immer noch „Ehrenmorde“, aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Von Gewalt im Namen der Ehre sind jedes Jahr Tausende von Frauen betroffen. Es gibt arrangierte Ehen und Zwangsheiraten. Frauen werden gezwungen, eine bestimmte Kleidung zu tragen. Frauen wird auch gesagt, zu welchen Männern sie Kontakt haben dürfen. Mein Eindruck ist aber, dass sich die Medien schwer tun, das zu thematisieren.
Ayhan Sürücü, der im Juli vergangenen Jahres aus der Haft entlassene Bruder und Mörder von Hatun Sürücü, behauptete auf seinem Facebook-Account, „Ehrenmorde“ gebe es auch in westlichen Kulturen, nur dass sie dort „Familiendrama“ genannt würden. Was ist der Unterschied?
In beiden Fällen verlieren Frauen und Männer ihr Leben und natürlich ist ein Mord ein Mord. Aber bei einem Familiendrama geht es meist um einen Einzelfall, in dem jemand aus persönlichen Motiven seinen Partner oder einen Verwandten umbringt. Ein „Ehrenmord“ wird dagegen meist von mehreren Familienmitgliedern geplant. Zumindest spielt der soziale Druck aus der Familie und aus dem Umfeld eine große Rolle. Wir merken auch immer wieder, dass die Familie nach einem „Ehrenmord“ mit dem Täter sympathisiert.
Wie kommt es zu einen „Ehrenmord“?
Die Jungen wachsen in solchen Familien mit der Vorstellung auf, dass sie auf ihre Schwestern aufpassen müssen, und dass ihre eigene Ehre und die der Familie vom Verhalten der Schwestern abhängt. Wenn über die Schwestern schlecht geredet wird und sie sich in Situationen begeben, in denen der Ruf der Familie infrage gestellt wird, fühlen sich viele Jungen, die mit diesen Vorstellungen groß geworden sind, verpflichtet, das in Ordnung zu bringen. Denn wenn der Ruf der Familie beschädigt ist, kann die Familie aus der Community, also ihrem sozialen Umfeld, ausgeschlossen werden. Die Jugendlichen sind aber von der Anerkennung durch dieses Umfeld abhängig und würden alles tun, um wieder aufgenommen zu werden. Im Extremfall kann es dann zu einem „Ehrenmord“ kommen.
Sind „Ehrenmorde“ ein muslimisches Problem?
Ja und nein. Kein Imam, kein Gelehrter, kein Islamverband in Deutschland findet „Ehrenmord“ oder Zwangsverheiratung in Ordnung. Sogar die Salafisten predigen dagegen, weil sie es nicht für vereinbar mit dem Islam halten. Es gibt bei einigen Muslimen aber die Vorstellung, dass Sexualität eine Sünde ist. Einige lehnen auch ab, dass Frauen ihre Partner selbst wählen können, dass sie selbst entscheiden können, was sie anziehen, wo sie wohnen und mit welchen Männern sie Kontakt haben. Es geht um Fremdbestimmung und patriarchale Strukturen. Der „Ehrenmord“ hat also nichts mit der Religion zu tun, aber je nachdem, wie man den Islam interpretiert, gibt es dort Inhalte, die die Denkmuster, die zum „Ehrenmord“ führen können, begünstigen.
Worum geht es bei dem Projekt „Heroes“?
Wenn die Gefahr eines „Ehrenmordes“ besteht, sind Einrichtungen gefragt, die direkt intervenieren. Die Polizei oder Frauenhäuser zum Beispiel. Wir machen dagegen Prävention, und dabei geht es uns nicht nur um „Ehrenmord“. Uns geht es um Gleichberechtigung und Unterdrückung im Namen der Ehre. Bei „Heroes“ arbeiten wir mit Vorbildern aus der Community. Wir bilden sie aus und diese „Heroes“ zeigen den Jugendlichen bei Workshops in Schulen Alternativen zu ihren bisherigen Einstellungen. Sie wollen klarmachen, dass man seine Ehre auch anders definieren kann als über das angeblich „richtige“ Verhalten der Frauen in der Familie. Viele Jugendliche haben diese Einstellungen ja einfach von ihren Eltern übernommen, ohne darüber nachzudenken. Das wollen wir aufbrechen.
War „Heroes“ eine Reaktion auf den Sürücü-Mord?
Indirekt ja. Ein solches Projekt gab es in Schweden, wo es Anfang der 2000er-Jahre mehrere „Ehrenmorde“ gab. Nachdem es in Berlin ein Bewusstsein für das Thema gab, hat der Verein Strohhalm entschieden, das Projekt nach Berlin zu holen.
Was müsste in der gesellschaftlichen Debatte anders laufen, um „Ehrenmorde“ und die Dinge im Vorfeld zu verändern?
Es darf nicht immer nur um das schlimmstmögliche Ende gehen, also den „Ehrenmord“. Wir brauchen eine differenzierte Debatte über Themen wie Gleichberechtigung und Ehre. Zum „Ehrenmord“ kommt es glücklicherweise nur selten. Von Gewalt im Namen der Ehre sind dagegen Tausende von Frauen betroffen.

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