Thomas Schlingmann, 56, ist Psychologe und Traumafachberater. Er gehört zu den Gründern des Vereins Tauwetter e. V., der Männer berät, die im Kindes- und Jugendalter Opfer von sexueller Gewalt gewesen sind. Nach 2010 nahmen Schlingmann und seine Kollegen am Runden Tisch teil, den die Bundesregierung gegen sexuellen Kindesmissbrauch initiiert hatte.
Berliner Morgenpost: Herr Schlingmann, wann und warum haben Sie den Verein gegründet?
Thomas Schlingmann: Der Verein entstand 1995 aus einer Selbsthilfegruppe für Männer, die in der Jugend sexuelle Gewalt erlitten hatten. Damals ein Tabuthema, es gab keine Anlaufstelle. Heute gibt es deutschlandweit sieben oder acht ähnliche Beratungsstellen.
Reicht das aus?
Nein, wir bekommen oft Anrufe von verzweifelten Männern, denen wir sagen müssen, dass es in ihrer Region keine Beratung gibt.
Wie viele Menschen sind von sexueller Gewalt betroffen?
Mehr, als viele glauben. Exakte Zahlen gibt es nicht, da das Dunkelfeld groß ist. Nach Hochrechnungen haben jedoch 15 bis 25 Prozent aller Frauen in Deutschland vor ihrem 18. Geburtstag sexuelle Gewalt erfahren und acht bis zwölf Prozent aller Jungen.
Wer wendet sich an Tauwetter?
Betroffene, aber auch Menschen aus deren Umfeld. Zum Beispiel Frauen, deren Partner in einer Beziehungskrise plötzlich erzählen, sie seien als Kind missbraucht worden. Jugendliche in akuten Situationen begleiten wir in Einrichtungen, wo sie die passende Hilfe bekommen, also etwa den Verein Wildwasser e. V.
Was hat sich verändert, seit im Januar 2010 der Missbrauchsskandal im Canisius-Kolleg ans Tageslicht kam?
Unsere Anfragen haben sich verdoppelt. Damals hatten wir 200 Anfragen im Jahr, heute sind es 400. Wobei der Anstieg oft etwas später einsetzt. Die größte Nachfrage hatten wir 2011.
Welchen Einfluss hat die öffentliche Diskussion?
Wenn ein Skandal aufgedeckt wird oder der „Tatort“ Missbrauch thematisiert, merken wir das einige Wochen später an steigenden Anfragezahlen. Wenn Opfer den Mut finden, öffentlich zu sprechen, kann das auch andere motivieren, die bisher resigniert hatten oder nicht wagten, sich ihren eigenen Erinnerungen zu stellen.
Was bieten Sie an?
Wir versuchen, mit den Betroffenen herauszufinden, wie sie mit ihrer Situation umgehen, wo sie Hilfe oder eine Therapie bekommen können. Außerdem bieten wir Präventionsarbeit an Schulen, unter anderem auch am Canisius-Kolleg.
Wie lange dauert es, bis jemand in der Lage ist, sich dem Trauma des Missbrauchs zu stellen?
Es vergehen oft Jahrzehnte, in denen die Erinnerung vollkommen verdrängt sein kann. Die Männer sind in der Regel zwischen 35 und 45 Jahren, wenn sie Hilfe suchen, Frauen etwas früher.
Mit welchen Fragen kommen Betroffene?
Die Anfragen drehen heute nicht mehr nur direkt um die Gewalt, das Trauma und die Verarbeitung. Die Folgen von Gewalt in der Kindheit können Depressionen und Sucht sein, mit allen sozialen Folgen.
Warum wurden die Folgen von sexueller Gewalt so lange verkannt?
Äußerlich sind die Folgen oft nicht zu sehen oder schnell verheilt. Aber bei allen Opfern entsteht das Gefühl, benutzt worden zu sein. Sie fühlen sich wie ein Stück Dreck, das nichts wert ist – und nichts kann. Bei vielen gibt es die Tendenz, immer wieder Opfer zu werden. Manche Menschen reagieren mit Depressionen und psychosomatischen Erkrankungen. Andere dagegen entwickeln einen besonderen Ehrgeiz, sich immer wieder zu beweisen und das Erlebte so zu verdrängen. Gerade Männer, denn deren Selbstbild lässt bis heute die Opferrolle eigentlich nicht zu.
Missbrauchsopfer gibt es also in allen gesellschaftlichen Schichten?
Ja. Dasselbe gilt übrigens für die Täter.
In welcher Lebenssituation beginnen die Betroffenen damit, den Missbrauch zu verarbeiten?
Bei manchen Betroffenen kommt es zu Krisen – in der Beziehung, im Leben generell. Manche haben plötzlich Panik, Atemnot in bestimmten Situationen. Dann setzt eine Art Umschwung ein. Andere haben das Gefühl, niemandem sei so etwas Schlimmes passiert wie einem selbst. Das ist der Punkt, an dem die Verarbeitung einsetzen kann.
Das klingt, als hätten Sie es selbst erfahren.
Ja, ich habe eine eigene, bearbeitete Geschichte mit sexueller Gewalt – ebenso wie meine beiden Kollegen in der Beratungsstelle.
Sprechen Sie mit den Betroffenen auch über juristische Schritte, um die Taten zu ahnden?
Bisher eher weniger, aber das wird sich in Zukunft ändern. Wer heute 30 oder 40 ist, hat keine Chance mehr, wenn er einen Täter anzeigt. Die Taten sind alle verjährt. Die Verjährungsfristen wurden zwar inzwischen verlängert, aber nur für Taten, deren Verjährung ohnehin noch nicht abgelaufen war.
Sind Sie zufrieden mit der heutigen juristischen Regelung?
Wenn man so lange Fristen schafft, muss man auch die Akten länger aufbewahren. Aber das geschieht nicht. Es gibt keine Akten mehr, bei keinem Jugendamt, die älter sind als 40 Jahre. Viele Täter sind aber über Jahrzehnte aktiv. Die Polizei bittet deshalb auch Opfer um Aussagen, wenn die Taten verjährt sind.
Das heißt, es ist noch nicht alles getan?
Nein. In den vergangen fünf Jahren hat man schnelle Schritte in die richtige Richtung gemacht – und auf halber Strecke wieder aufgehört. Einige Institutionen haben ihre Geschichte hinterfragt, wenn dort Missbrauch öffentlich wurde. Andere nicht. Man weiß, dass unter Jugendlichen heute sehr viel mobbingähnliche Gewalt passiert, bei denen das Opfer auch sexuell missbraucht wird. Siehe etwa Bundeswehr. Aber was ist an Berufsschulen los? Oder bei Aufnahmeritualen in anderen Institutionen? Da hat überhaupt noch niemand hingeschaut.
Ist die Öffentlichkeit heute aufgeklärter als vor fünf Jahren?
Teilweise. Aber viele glauben immer noch, sexuelle Gewalt betreffe vor allem kleine Kinder. Dabei sind nur ein Drittel wirklich Kinder. Ein weiteres Drittel befindet sich in der beginnenden Pubertät, ein weiteres Drittel ist zwischen 13 und 16 Jahren alt.
Wo passieren die Taten?
Man schätzt, dass ein Viertel bis ein Drittel zu Hause passiert, der größte Teil aber im sogenannten sozialen Nahbereich, also in der Schule und anderen Institutionen. Nur ein kleiner Teil der Taten wird durch Täter begangen, die das Opfer nicht kennt.
Wer sind die Täter?
Nur ein kleiner Teil wird durch kranke, pädophile Täter begangen. Die meisten Täter sind ganz normale Erwachsene – und ein nicht zu unterschätzender Teil sind Jugendliche. Übrigens sind zehn bis 15 Prozent der Täter weiblich. Und auch deren Opfer sind mehrheitlich weiblich.
Wie erklären Sie sich das?
Bei sexueller Gewalt geht es vor allem darum, einen anderen Menschen sexuell zu erniedrigen. Die sexuelle Ausrichtung des Täters spielt eine untergeordnete Rolle.
Warum sind Missbrauchsopfer innerhalb der Kirche oder in Glaubensgemeinschaften ihren Tätern besonders ausgeliefert?
Wenn die Glaubensautorität dazukommt, fällt es noch schwerer, sich zu wehren oder den Täter anzuzeigen. Diese Auseinandersetzung fehlt mir aber bisher in allen Religionsgemeinschaften.
Der Jesuit Pater Klaus Mertes hat das doch als damaliger Direktor des Canisius-Kollegs 2010 öffentlich ausgesprochen. Er nannte es das „System des Schweigens“ und den Orden, den er vertrat, eine „Täterorganisation“.
Das ist wieder versandet. Wenn sich daraufhin alle ernsthaft damit auseinandergesetzt hätten, müsste es heute in allen Glaubensgemeinschaften Mitglieder geben – nicht nur bei den Katholiken –, die darüber sprechen, wie sie selbst missbraucht worden sind. Dass sie sich weiter im Verborgenen halten, zeigt aber, wie die Umstände heute tatsächlich noch sind.
In der Öffentlichkeit wird bis heute über die Entschädigungen für die Opfer gestritten. Welche Rolle spielt dieses Geld?
Ich glaube, die konkreten Summen haben für die Einzelnen natürlich unterschiedliche Bedeutung. Aber dass die Kirche sich erlaubt, sich beim Thema Missbrauch von den Summen zu distanzieren, die in anderen Entschädigungsfällen gezahlt würden, das hat auch eine gesellschaftliche Bedeutung. Man speist die Opfer ab, wieder einmal. Das ist das Problem.
Was muss passieren?
Wir müssen das Problem mehr in der gesamten Breite verstehen. Bisher haben wir in einzelne Ecken der Gesellschaft geschaut. Wir müssen verstehen, wie das System funktioniert – und dass es die ganze Zeit und überall um uns existiert.
Tauwetter e.V. bietet Präventionsarbeit an Schulen an, unter anderem am Canisius-Kolleg. Was passiert da?
Wir arbeiten momentan an zwei Berliner Schulen jeweils mit einem kompletten Jahrgang. Meistens in der achten Klasse, nach Jungen und Mädchen getrennt. Für Lehrer bieten wir eigene Fortbildungen an und Elternabende. Den Schülern stellen wir uns als Gesprächspartner mit unserer eigenen Erfahrung zu Verfügung. Im Kern geht es bei der Präventionsarbeit immer darum, Kinder stark zu machen, damit sie Grenzverletzungen erkennen und sich zur Wehr setzen können.
Was sind Grenzverletzungen?
Zum Beispiel ein Sportlehrer, der in die Duschkabinen guckt. Oder ein Lehrer, der pubertierenden Mädchen in den Ausschnitt guckt und grinst. Oder wenn ein Schüler auf einer Reise damit bestraft wird, dass er in Unterhose auf dem Flur stehen muss. Es sind solche Kleinigkeiten, fragwürdige Situationen, bei denen man nicht immer bösen Willen unterstellen muss. Aber solche Situationen können ausgenutzt werden – das muss man dem Betreffenden klar machen.
Wie kann man Kinder schützen?
Der beste Schutz ist, wenn Erwachsene solche Situationen erkennen. Und wenn Kinder das Gefühl haben, dass sie über alles reden dürfen, was ihnen komisch vorkommt.