Im Januar 2010 wurde der Canisius-Skandal bekannt - der jahrelange systematische Missbrauch von Schülern. Die Fälle haben Politik, Kirchen und Gesellschaft verändert.
Ja, sagt Matthias Katsch, ihm gehe heute es besser als vor fünf Jahren. „Mir hat es geholfen, endlich über das sprechen zu können, was mir als Schüler angetan wurde.“ Zufrieden mache ihn auch, dass sie immerhin einiges erreicht hätten in der Zeit. „Sonst säßen wir ja nicht hier.“ Auf dem Podium der Bundespressekonferenz, wo sonst Regierungsvertreter ihre Statements abgeben, ging es am Montag um die Aufarbeitung des Kindesmissbrauchs in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten. Vertreter der Betroffenen, der Bundesregierung und des Jesuitenordens zogen Bilanz.
Matthias Katsch ist Sprecher des Eckigen Tischs, der Betroffeneninitiative ehemaliger Schüler des Canisius-Kollegs. Die Berliner Morgenpost hatte am 28. Januar 2010 als erste Zeitung über den systematischen sexuellen Missbrauch an der Eliteschule in den 70er- und 80er-Jahren berichtet. Und darüber, wie die Taten jahrzehntelang vertuscht wurden. Auch Katsch kam in den ersten Berichten zu Wort. Damals allerdings noch mit verfremdetem Namen und Bild. Dass er sich heute nicht mehr verstecken muss, sieht er als Erfolg. Und fügt aber hinzu: „Auch wenn keine unserer Forderungen von vor fünf Jahren erfüllt wurde.“
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Nein, sagt Adrian Koerfer, genau deshalb gehe es ihm heute deutlich schlechter als vor fünf Jahren. Koerfer sitzt neben Katsch auf dem Podium, er vertritt die Betroffenen der Odenwaldschule in Hessen. Mehrere Lehrer, darunter der einstige Schulleiter Gerold Becker, sollen sich in den 70er- und 80er-Jahren an Schülerinnen und Schülern sexuell vergangen haben. Koerfer steht heute dem Verein Glasbrechen vor. Er sagt: Seit fünf Jahren beschäftige ihn der Kampf um Aufklärung und Anerkennung tagtäglich. „Aber an der Odenwaldschule gibt es bis heute nicht einmal einen Ansprechpartner für die Opfer.“
Mühsame Suche nach Verantwortlichen
Und auch Anselm Kohn, der die Missbrauchsopfer der evangelischen Nordkirche vertritt, ist zur Pressekonferenz gekommen. Er spricht von der mühsamen Suche nach Verantwortlichen innerhalb der evangelischen Kirche. Ein Gemeindepfarrer bei Ahrensburg hat in den 80er-Jahren Jugendliche missbraucht. Der Fall wurde vertuscht, schließlich trat die Bischöfin Maria Jepsen zurück. Bis heute würden Opfer als Bittsteller und von oben herab behandelt, sagt Kohn. „Man duzt und umarmt sie und fragt sie aus, das ist entwürdigend und unprofessionell.“ Alle Opfervertreter kritisieren aber vor allem eines: dass auch fünf Jahre „danach“ die Aufarbeitung der Taten noch immer bei den Institutionen liege, wo sie geschahen. „Wo gibt es das, dass eine Täterorganisation ihre eigenen Taten ermittelt?“, fragt Katsch.
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Am Canisius-Kolleg wussten Schüler und Lehrer wohl schon in den 80er-Jahren von Patres, die im Rahmen der Jugendarbeit seltsame Dinge mit manchen Jungen und Mädchen anstellten. Mindestens zwei Täter sollen es gewesen sein. Katsch war Opfer von beiden. Peter R. missbrauchte die Beichte, um Schüler über ihre Sexualität auszufragen, und zeigte ihnen Pornobilder. Wolfgang S. legte beim Nachhilfeunterricht sein Opfer gern übers Knie und schlug ihm mit dem Teppichklopfer oder dem Stock aufs nackte Gesäß. Und stöhnte dabei.
„Ich hatte keine Worte für das, was man mir antat“
Einmal, als Pater S. ihn besonders misshandelte, erinnert sich Katsch, habe der ihn danach „fürsorglich“ nach Hause zu den nichtsahnenden Eltern gebracht. „Sadistische Sessions“ nennt Katsch die Taten heute. Als Kind schwieg er, schloss sich zur Not im Badezimmer ein, damit keiner die Tränen sah. „Ich hatte keine Worte für das, was man mir antat.“
Wie geht man um mit etwas, für das es keine Worte gibt? Schon 2007 hatte der Jesuitenorden die Berliner Anwältin Ursula Raue mit einem Bericht über sexuellen Missbrauch deutschen Jesuitenschulen beauftragt. Sie stieß auf mindestens 115 Fälle und geriet 2010 zwischen alle Fronten, als ein Täter bereits sichergestellte Nacktfotos von Kindern vernichten konnte. Raue sagte damals, sie habe nicht gewusst, dass die Bilder Beweismittel seien. Im Juli 2014 schied Raue aus ihrer Funktion aus. Der Bundestag verschärfte wenig später die Gesetze für den Besitz von Kinderpornografie. Anlass dafür war der Fall des SPD-Politikers Sebastian Edathy.
Ausmaß der Taten erschien unvorstellbar
Der Fall zeigt, wie schwer es ist, den richtigen Umgang mit dem Thema zu finden. Matthias Katsch sagt heute: Vielleicht sei es ganz gut, dass erst jetzt eine unabhängige Kommission damit beginnen soll, die Taten und Zusammenhänge aufzuarbeiten. „Wir mussten alle viel lernen.“ Allein das Ausmaß der Taten erschien vor fünf Jahren unvorstellbar. Aus Jesuitenschulen wurden im Februar 2010 mindestens 115 Opfer gemeldet. Dann kam die Odenwaldschule, das Vorzeigeobjekt der Reformpädagogik, dazu: rund 130 mutmaßliche Opfer. Immer mehr Fälle wurden aus Kirchengemeinden bekannt und zogen sich bis in die obersten kirchlichen Kreise. Und auch Opfer familiärer Gewalt sprachen plötzlich über ihr Leid und die Spätfolgen, etwa die Tochter des Schauspielers Klaus Kinski.
Für Katsch begann das Reden, als er im Oktober 2009 eine anonymisierte E-Mail erhielt: „Auch am Canisius-Kolleg wurden Jungen sexuell missbraucht.“ „Ja“, schrieb Katsch an seine ehemaligen Schulkameraden, „ich auch.“ Als ihm immer mehr antworteten, „wurde mir klar, dass es auch in den anderen Jahrgängen viele Opfer gegeben haben muss und ein System, das alles vertuschte“. Schließlich suchten die ehemaligen Schüler den Kontakt zum damaligen Schuldirektor, Pater Klaus Mertes. „Wir wollten eigentlich nur die Adressen der anderen Jahrgänge haben, um sie zum Gespräch einzuladen“, sagt Katsch.
Aufruf, das Schweigen zu brechen
Klaus Mertes aber richtete selbst einen Brief an die betroffenen Jahrgänge. Er entschuldigte sich – auch wenn er persönlich im Tatzeitraum noch nicht an der Schule gelehrt hatte. Er rief dazu auf, das Schweigen zu brechen. Mertes wurde 2010 zu einer Art Sprecher wider Willen im Missbrauchsskandal. Deutlicher als zunächst manche Opfer prangerte er das „System des Schweigens“ in Orden und Kirche an, nannte sich einen Vertreter der „Täterorganisation“. Ein Jahr später wurde Mertes in den Schwarzwald versetzt, ans Jesuitenkolleg St. Blasien. Auch Mertes sagt heute über sich, es gehe ihm gut.
Der Jesuit stimmt den Betroffenen zu, die dringend die unabhängige Aufarbeitung fordern. Auch er wünscht sich, dass der Vatikan endlich die Akten freigibt, die Aufschluss darüber geben könnten, wie die Kirche Täter versetzen und schützen ließ. Er weist darauf hin, dass auch heute noch Opfer von der Kirche nicht angehört werden. Nur in der Frage nach Entschädigungen hat er eine andere Meinung.
„5000 Euro sind nicht genug“
5000 Euro soll jedes Opfer von sexuellem Missbrauch vom Jesuitenorden bekommen. In der katholischen Kirche sind es nur „bis zu 5000 Euro“, wobei die Summe von der Kirche selbst festgelegt wird. „Dafür müssen die Betroffenen zunächst einen entwürdigenden Fragebogen beantworten“, sagt Katsch. Rund 1500 solcher Anträge auf „Ausgleichszahlungen“ wurden bisher gestellt, 95 Prozent seien bewilligt worden, teilte die Deutsche Bischofskonferenz gerade mit – allerdings ohne eine Gesamtsumme zu nennen.
Klaus Mertes führt an, dass das Geld ja nicht von den Tätern selbst, sondern von deren Organisationen gezahlt werde. Ginge es nach juristischen Kriterien, „würde manchen Opfern nicht einmal Schmerzensgeld gezahlt“. Die Opfer erwidern: Diese seien ja Teil des Verbrechens. Das System hinter der Tat. Katsch fügt hinzu: Eine Entschädigung müsse fühlbar sein. „5000 Euro sind indiskutabel.“
Die lebenslangen Folgen von Missbrauch sind schwer zu erfassen. Wenn sie ans Licht kommen, sind die Taten meist verjährt. Auch Matthias Katsch erinnerte sich erst 2005, als er einen Täter zufällig auf einer Veranstaltung sah. Sein Wunsch ist nicht, die Täter zu konfrontieren. Er konzentriert sich lieber darauf, die Situation der Opfer zu verbessern. „Ich bin zufrieden, wenn ich dazu beitragen kann.“
Die Täter kamen übrigens ungeschoren davon. Wolfgang S. hat mehrere Hundert Verfehlungen bereits gegenüber dem Vatikan zugegeben, als er 1991 den Orden verlassen hat. Er sei psychisch krank gewesen. Später ging er nach Lateinamerika, ließ sich laisieren, heiratete und bekam eine Tochter. „Weder die katholische Kirche noch der Jesuitenorden haben ihn bis heute für seine Taten zur Verantwortung gezogen“, sagt Matthias Katsch vom Eckigen Tisch.
Und Peter R., der frühere Mitbruder von S., der als Leiter der außerschulischen Jugendarbeit am Canisius-Kolleg Dutzende Jungen missbrauchte, wurde nach Göttingen versetzt. Als Pfarrer in Niedersachsen hatte er weiter Kontakt zu Jugendlichen, immer wieder gab es auch dort Missbrauchsvorwürfe. Seit seiner vorzeitigen Pensionierung 2003 lebt er wieder in Berlin. R. wurde im Dezember 2013 von einem geheimen Kirchengericht verurteilt. Das Priesteramt darf er nicht mehr ausüben, 4000 Euro Geldstrafe muss er zahlen. Die Strafe bezog sich auf den Missbrauch eines Mädchens in seiner Zeit im Bistum Hildesheim nicht auf die Taten am Canisius-Kolleg.
jof